“EUROVISION SONG CONTEST 2022”
“Herzlich Willkommen zum ESC Bullshit-Bingo!”!

Ein weiterer Gast-Beitrag von Frank Ehrlacher!

 

 

Man kann sich noch so viel Mühe geben uns als jemand, der den Wettbewerb nun seit über 40 Jahren intensiv verfolgt, im Vorfeld erklären und auch begründen, warum es so kommt, wie es gekommen ist (Ukraine 1., Deutschland Letzter – und dazwischen auch noch was), der Tag nach dem ESC ist der Tag der Stammtisch-Philosophen, die aus dem persönlichen Frust heraus ihr Besserwisser-Gen aktivieren und erklären, dass die Welt ungerecht ist und sich alle gegen das arme Deutschland verschworen haben und sie genau ermittelt haben, dass der deutsche Beitrag der „beste“ Song des Abends war.

Ich versuche dennoch nochmal mit ein paar Argumenten dagegen zu halten.

 

 

  1. „Das ist doch alles Politik“

Das kommt dieses Jahr geballt, vor allem vor dem Hintergrund, dass der Sieg der Ukraine „politisch motiviert“ sein soll. Im Grunde ist das schon bei erstem Hinsehen Quatsch – oder richtig, wenn man sagt, dass „Politik“ vom griechischen „Res Polis“ kommt, was soviel wie „Die Dinge des Volkes“ bedeutet. Und „das Volk“ hat am Samstag entschieden, dass die Ukraine gewinnt.
Wenn man es aber so sieht, wie man heute in der Wissenschaft Politik meist definiert, nämlich, dass es alle Entscheidungen bezeichnet, die das Volk betreffen und aus einer Machtposition (von Regierungen / Staatsführern) heraus getroffen wurden, sieht man, dass die Annahme Blödsinn ist. Denn zum einen haben „Machthaber“ beim ESC gar nichts zu entscheiden. Selbst wenn man dumpfbackig unterstellen würde, die beeinflussen die Jurys, sollte man sehen, dass die Ukraine da „nur“ auf Platz 4 gelandet ist und der überwältigende Sieg durch das Televoting zustande kam. „Das Volk“ Europas wollte diesen Song und Sieger haben.

 

  1. „Wir werden immer Letzter, weil keiner uns mag“

Das schließt sich unmittelbar daran an, ist aber auch Blödsinn. Wir werden ja nicht immer letzter. Nur sehr oft. Mit wirklich guten Performances wie 2010 (Lena) oder 2018 (gerade mal 4 Jahre her, Michael Schulte) sind wir auch weit vorne gelandet. Und krachendes Gegenargument: Russland hat die vergangenen Jahre fast immer sehr gut beim Song Contest abgeschnitten. Und die waren schon vor ihrem Angriff auf die Ukraine nicht gerade Sympathie-Bolzen. Und bevor wieder jemand sagt: Das waren doch nur die Punkte aus den ehemaligen sowjetischen Bruderländern – macht euch die Mühe, die Ergebnisse mal anzuschauen. Die Punkte kamen aus dem gesamten Westen.

 

 

 

 

 

  1. „Da wird doch nicht mehr die Musik bewertet“

Gegenfrage: Wie „bewertet“ man Musik? Zählen der Takte? Wie viele Harmonie- und Rhythmuswechsel bietet ein Song? Wie viele chromatische Halbtonschritte muss der Interpret meistern? Musik ist nicht „bewertbar“. Was wir bewerten, ist die Emotion, die Musik erzeugt, ein Gesamtpaket. Da zählt natürlich auch der Text, denn der gehört untrennbar zum Song. Dann der Künstler, seine/Ihre Stimmfarbe. Und natürlich auch Sympathiewerte. Ein Song, den eine unsympathischer Künstler singt, wird es bei mir schwer haben, Emotionen zu wecken. Dazu gehört sicher auch die Geschichte und das Herkunftsland des Songs. Und auch, wie sich der Künstler präsentiert, die Show.

Viele Puristen hätten es gerne, man würde den Künstlern Arme und Beine zusammenbinden und sie vor ein Stand-Mikrofon stellen und dann die Reinheit der Intonation messen. Kann man machen, wäre aber strunzlangweilig und hätte mit Kunst und Emotion gar nichts mehr zu tun.

 

 

  1. „Wir sind nur gut genug um das zu bezahlen, wir sollten denen den Geldhahn zudrehen

 

 

ESC-Punkte kann man nicht kaufen! Zum Glück. Dass Deutschland mit am meisten bezahlt, liegt daran, dass wir mit das größte Land in Europa sind. Und die meisten Zuschauer haben. Im Gegenzug bekommen wir aber auch als eines der „Big 5“ einen garantierten Startplatz im Finale. Wenn man die Ergebnisse sieht, würde sonst das Finale ohne „uns“ stattfinden. Also sollten wir eigentlich froh sein. Und wer dann wieder ankommt „Das kostet uns 300.000 (die Zahlen sind 3 Jahre alt, vielleicht sind es jetzt auch 400.000) Euro, die könnte man woanders besser einsetzen“, ist auch das Blödsinn. Wir bekommen dafür ja eine 4-Stunden TV-Sendung, die je nach Alter jeder Dritte bis jeder Zweite gesehen hat am Samstag. Dafür sind 300.000 Euro ein Schnäppchen. Man würde ja auch sonst kein Testbild senden, sondern selbst eine Show produzieren – und das würde mutmaßlich deutlich teurer.

 

 

 

  1. „Wir sollten einfach ein paar Jahre nicht mehr mitmachen“

Was sollte das bringen? Das wäre so, als wenn Borussia Dortmund, Bayer Vizekusen oder der HSV sagen „Wir trainieren jetzt einfach ein paar Jahre nicht, weil man uns nicht gewinnen lässt, dann werden wir in 3, 4 Jahren schon die Bayern schlagen“. Ziemlich dämlich, oder? Sollte es nicht das Ziel sein, sich so zu verbessern, dass wir endlich wieder konkurrenzfähig sind?

 

 

 

  1. „Das Punktesystem ist ungerecht und benachteiligt uns“

Leider hat sogar der von mir geschätzte Peter Urban das Argument am Samstagabend verbreitet, wie ich gehört habe – es sei unfair, dass nur die ersten Zehn Punkte bekommen (12, 10, 8 … 1), sondern es sollten alle 25 Punkte erhalten (25, 24, 23… 1). Es ist aber dennoch Unfug. Zum einen sind so mal die Spielregeln. Um wieder beim Fußball zu bleiben, wäre das genau so wie zu sagen, „Würde man für einen Sieg 2 Punkte (statt 3) oder 4 Punkte bekommen, ständen wir in der Tabelle viel weiter vorne und das wäre gerechter.“ Nun, es wäre nicht gerechter, nur anders. Und das sähen dann auch nur wir so und andere, die dann weiter hinten ständen (eventuell) fänden es ungerecht. Wer Gerechtigkeit will, soll zu Amnesty International gehen – beim ESC geht es um Musik und Show.

Dennoch haben fleißige Kollegen einmal ausgerechnet, was denn wäre, wenn wirklich der 1. 25 Punkte und der 25. einen Punkt bekäme. Es käme zu einzelnen Verschiebungen und in der Tat, wäre Deutschland 23. statt 25. geworden vor Island und Frankreich, die dann von 24 auf 25 gerutscht wären.  Aber warum wäre der 23. Platz „gerechter“ als der 25. Platz? Die Franzosen würden das auch anders sehen, da sie den 24. sicherlich viel gerechter fänden als den 25. …

 

 

  1. „Wir sollten endlich Helene Fischer schicken“

… oder „Eskimo (neu: Electric) Callboy”. Auch Unsinn. Stars haben den Contest noch nie gewonnen – es geht um das „Momentum“. Den Song und die Show und die Überraschung. Viele Weltstars (bekannteste Beispiele sind Cliff Richard und Olivia Newton-John in den 1970er Jahren) sind beim ESC krachend gescheitert. Auch DJ Bobo hat nicht einmal das Finale erreicht. Weltstars haben es beim ESC sogar viel schwerer, da die Erwartungen viel höher sind und es für sie viel schwieriger ist, zu überraschen. Und das Beispiel „ABBA“ ist auch Unfug – die waren bei ihrer Teilnahme 1974 nämlich allenfalls in Schweden bekannt. Weltstars sind sie erst nach dem Contest gewonnen. Maneskin übrigens auch.

 

 

 

8 . „Das kann nicht stimmen, dass wir keine Punkte bekommen haben. Der Song läuft doch pausenlos im Radio“

Siehe oben. Man muss beim ESC überraschen, (positiv) auffallen, Emotionen erzeugen. Darauf sind die meisten Rundfunkprogramme oder auch die (eigene) Spotify-Playlist meistens nicht ausgerichtet, sie sollen unterhalten, beim Autofahren, bei der Arbeit, wo auch immer. Dass ein Song hoch in den Charts steht, war bisher genau so wenig ein Argument wie die „Weltstar“-Theorie. Oder um es zu wiederholen: Malik Harris ist ein guter Künstler, mit einem guten Song und einer guten Performance – allerdings komplett ungeeignet für den ESC. Dadurch wird er kein schlechter Sänger und auch der Song nicht doof. Aber er passt nicht zum ESC und wer glaubt, man könne den Contest mit den Charts gleichsetzen, hat den ESC nie verstanden…

Das war Teil 1 des ESC-Bullshit-Bingos. Ich werde mich jetzt gleich mal wieder in meine Kommentarspalten oder die von Kollegen stürzen – ich bin sicher, es gibt noch ganz viele kreative Bullshit-Argumente, die mit im Traum nicht einfallen …

 

 

 

© NDR / EBU
Textquelle: Frank Ehrlacher

Ein Gedanke zu „“EUROVISION SONG CONTEST 2022” <br>“Herzlich Willkommen zum ESC Bullshit-Bingo!”!

  • 17. Mai 2022 um 13:18
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    Den Artikel kann ich zu 100 % unterschreiben

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