"EUROVISION SONG CONTEST 2016"
smago! top-exklusiv: Die große ESC-Nachlese von Frank Ehrlacher!

Der ultimative Chart (Show) Experte nimmt kein Blatt vor den Mund …: 

Der Eurovision Song Contest 2016 in Stockholm ist Geschichte – oder schreibt weiterhin Geschichten. Und während wir hier in Stockholm einpacken und halb-dankbar,  halb-freudig zurückschauen auf eine fröhliche Woche mit guter Musik, einer tollen Show und auch den Sicherheitskräften vor Ort dankbar sind, dass alles ruhig und friedlich abgelaufen ist, lesen wir, wie die Wellen überall hochschlagen und der Sieg der Ukraine als genauso "ungerecht" gebrandmarkt wird wie der letzte Platz des deutschen Beitrags. Meine Auffassung von Journalismus ist, zu beobachten, zu berichten, zu analysieren und einzuordnen – nicht zwingend zu werten und sich nicht (zu sehr) von persönlichen Vorlieben leiten zu lassen.

Daher eins vorweg: Wer meine smago!-Exklusiv-Kolumne am Morgen vor dem ESC gelesen hat, erinnert sich vielleicht, dass ich sowohl die drei Erstplatzierten als auch den letzten Platz von Deutschland (im Kampf mit Großbritannien) vorher gesagt hat. Meine Prognose war in keiner Form " politisch motiviert" – sie entsprach schlichtweg dem, was ich in den Tagen und Wochen vor dem ESC in den Proben und Halbfinals gesehen habe und was sich am Samstagabend in der Live-Sendung bestätigte.

Natürlich kann man über den Siegertitel trefflich streiten – meinen persönlichen Geschmack trifft er nebenbei bemerkt auch nur teilweise und sonderlich kommerziell ist er für meinen Geschmack mitnichten. Aber es gibt in meinen Augen neben vielen Seitenstraßen zwei Königswege, beim ESC vorne dabei zu sein:

– Authentisch sein und dem Zuschauer etwas von "seiner" Kultur und Identität zu vermitteln – egal, ob es den Massengeschmack trifft

– oder eine Performance, ein Konzept (Thema, Interpret) und vor allem einen "guten" Song zu finden, der und die das Publikum in ganz Europa drei Minuten in seinen Bann ziehen. Ein vermeintlicher "Ohrwurm", den man nach 30 Sekunden mitsingen kann, reicht da zumeist nicht mehr aus.

Der Sieger-Titel "1944" der Ukrainerin Jamala erfüllte gleich beide Voraussetzungen: Er erzählte vom Schicksal und Leid einer Frau, einer Familie und letztendlich einer Generation eines Landes, jenseits der westlichen Songstrukturen und Melodiebögen. Und die Interpretin präsentierte den Song mit einer Leidenschaft, die man ihr angesichts des Themas abnahm. Ich bin der Überzeugung, aus diesen Gründen ist der Beitrag gewählt worden – und nicht, um der geschundenen Ukraine "Mittleidspunkte" zu geben oder politisch in die Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine einzugreifen – letzteres wird schon dadurch widerlegt, dass auch Russland genauso und noch mehr mit Telefonanrufen bedacht wurde. Ebenso deplatziert scheint es, der Ukraine vorzuwerfen, ein Lied zu singen, dass ein Stück der Stimmung in ihrem Land widerspiegelt – das Land befindet sich seit Jahren im (Bürger-)Krieg. Wäre es da glaubhaft gewesen, mit eine Liebesschnulze oder Feel-Good-Disco-Nummer um die Ecke zu kommen? Und hätte sich damit der ESC nicht dem Vorwurf ausgesetzt, an den Problemen Europas blind-schunkelnd vorbeizuträllern?

Am Ende setzten sich einfach zwei eindrucksvolle Performances gesungen von starken Frauen gegen die fast perfekte Show des Russen Sergey Lazarev durch. Die Gewichtung war unterschiedlich, die (Fach-)Jurys honorierten mehr die Authentizität der Ukrainerin und die Ausdrucksstärke der Australierin, das "gemeine Volk" per Televote mehr die Show des Russen – aber hier von einem bewussten politischen Statement zu sprechen, scheint mir von BEIDEN Seiten verfehlt – es handelt sich um eine Abstimmung in einem Musikwettbewerb und über Geschmack lässt sich sprichwörtlich eigentlich gar nicht streiten. Oder wie "ABBA" Björn Ulvaeus es heute in Stockholm ausdrückte "Wir wussten vielleicht gar nicht, wie wichtig dieser Contest ist".

Und damit springen wir ans Ende des Tableaus und zu der Frage, die die deutsche Öffentlichkeit am "Tag danach" noch deutlich mehr bewegte: Wie kann Europa so ungerecht sein und uns die Punkte vorenthalten, die wir doch schon alleine dadurch virtuell "erkauft" haben, dass wir einer der größten Beitragszahler der EBU sind? Haben wir nicht schon dafür "Dankbarkeit" verdient oder zumindest dafür, dass "wir" eine führende Rolle in Europa einnehmen und an vielen Problemen nicht vorbeischauen? Oder ist es gerade umgekehrt, dass Europa "uns" zeigen wollte, dass es mit der Politik Angela Merkels nicht einverstanden ist und uns als "Gelbe Karte" mit minimalen Punkten beim ESC abstrafte?

Auch das ist gelinde gesagt alles großer Blödsinn. Den TV-Zuschauer in der Ukraine, Aserbaidschan oder Albanien interessiert es genau so wenig, was in dem Land, aus dem diese Manga-Sängerin kommt, gerade politisch abgeht – sie greifen dann zum Telefon, wenn sie die Performance überzeugt. Und bezeichnenderweise kamen unsere Televoting-Punkte einzig aus der Schweiz (8 Punkte) und Österreich (2 Punkte) – nicht, weil die uns mehr mögen, sondern weil Jamie-Lee hier durch die Ausstrahlung von "The Voice Of Germany" auch in diesen Ländern schon eine gewisse Fan-Base hat.

Was hätte sonst animieren können, für "Ghost" anzurufen? Authentizität? Der "Manga Style" ist nicht wirklich prägend für das Erscheinungsbild deutscher Großstädte – und authentisch in Bezug auf den Song ist er auch nicht. "Ghost" ist ein handwerklich gut gemachter 08/15-radio-tauglicher Pop-Song – nicht gerade etwas "typisch deutsches", mit dem man uns im Ausland in Verbindung bringt. Und zum "Manga-Style" passt der Song gar nicht sondern wirkt aufgesetzt. Hätte sie eine coole asiatische Dance-Nummer gesungen, hätte man ihr Outfit als "authentisch" abgenommen.

Und die Performance? Auch die war bieder, brav und vergesslich – Jamie-Lee fehlt-e es an Ausstrahlung genauso wie an zündenden Ideen bei der Inszenierung – das in Kombination mit einem Song, bei dem man nach 30 Sekunden schon weiß, dass er auch in den verbleibenden 2:30 nicht mehr in die Hufe kommen wird – beides Argumente gegen eine gute Platzierung und für das Desaster, dass Jamie-Lee als "ausführendes Organ", insbesondere aber die ARD und der federführende NDR am frühen Sonntagmorgen erlebten.

Dem NDR dafür die alleinige Schuld zu geben, ist auf den ersten Blick zu kurz geworfen: Schließlich haben 44,5% der Fernsehzuschauer in der Vorentscheidung am 25. Februar in Köln Jamie-Lee gewählt – eine mehr als überzeugende Mehrheit. Aber: War es nicht schon vorher klar, dass jemand, der nur acht Wochen zuvor in einem wochenlangen TV-Casting TV-Präsenz zeigte und eine große Fan-Base hatte, mehrheitsfähig sein würde? Und hat der NDR nicht zur Steigerung der Einschaltquote für die Vorentscheidung gezielt diese Karte ausgespielt und mit "Namen" geworben? Ihre Auswahl entsprang demselben Geist, wie die gescheiterte Akklamation Xavier Naidoos im November: Ein guter Name im eigenen Land wird schon auch international funktionieren. Dass auch Xavier Naidoo als Soul-Sänger nicht wirklich authentisch-deutsch ist und er in Deutschland mehr durch seine Texte überzeugt, die international niemanden in seinen Bann ziehen würden, bedachte hierbei scheinbar niemand. Und es passt auch in die Reihe ähnlicher Flops wie wir sie mit Big Names wie den "No Angels" oder "Cascada" in den vergangenen Jahren international erlebten.

Über den Song hat man sich – wie in den meisten Fällen – gar nicht erst groß Gedanken gemacht. "Jamie-Lee" ist als Marke gewählt worden und da nimmt man halt den einzigen von ihr verfügbaren Song, "Ghosts". Dass dieser es damals trotz wochenlanger TV-Präsenz als erster Siegertitel einer großen Casting-Show nicht mal unter die Top Ten im eigenen Lande geschafft hat, hat dabei offensichtlich keinen gestört: Wenn ihn schon in Deutschland kaum einer mochte, kann ihn ja wenigstens Europa lieben – und nun steht man ungläubig vor der Tatsache, dass das auch dem Rest Europas nicht gut genug war…

Ähnlich erging es mit der Performance – die wurde schon von allen Seiten in Köln als schwach empfunden – geändert hat man in den rund zehn Wochen bis zum europäischen Finale… nichts! Getreu dem Motto "Wird schon gut gehen" setzte man weiter auf den doch so "unwiderstehlichen" Manga-Style. Die Quittung für diese Fehleinschätzung gab es am Wochenende in Stockholm. In meinen Augen Zurecht. Ob man mit einer derartigen Leistung am Ende dann Letzter, Vorletzter oder Drittletzter wird, ist sicher auch dem Zufall geschuldet – ungerecht oder politisch motiviert ist der letzte Platz für Deutschland aber noch lange nicht.

Was könnte man für die nächsten Jahre verändern?

Thema "Authentizität": Ob es den meisten Musik-Fans nun passt oder nicht: Schlager (und sogar Volksmusik) sind "typisch deutsch". Schweden feierte in den vergangenen Jahren ESC-Erfolge – Schweden schickt seit Jahren die Sieger des "Melodifestivalen", eines traditionellen schwedischen Musikwettbewerbs, ins ESC-Rennen. Vorherrschende Musikrichtung: "Schlager" – und das geht auch auf Englisch. Ausgerechnet Deutschland scheut diese Musikrichtung beim ESC aber scheinbar wie der Teufel das Weihwasser.

Thema "Song": In den vergangenen Jahren lag die Auswahl der in den deutschen Vorentscheidungen präsentierten Songs in den Händen der für den ESC verantwortlichen Produktionsfirma in Zusammenarbeit mit Vertretern einiger großen Plattenfirmen. Erstaunlicherweise war genau eine Firma am Ende immer überproportional vertreten. Warum stellt man die Songauswahl nicht wieder auf breitere Füße, wie in den 1980er Jahren, als alle Komponisten ihre Vorschläge einreichen konnten, die sie speziell für den ESC geschrieben hatten und eine breiter aufgestellte Jury daraus die Vorentscheidungs-Beiträge aussuchte? Heute wissen die Plattenfirmen "Der ESC steht an" und schauen, was sie in den kommenden Monaten eh veröffentlichen wollen und sich mit einem Vorentscheidungsauftritt "ganz gut promoten" ließ und wählen dann Songs aus den Schubladen internationaler Autoren, die beim Schreiben niemals daran gedacht haben, dass gerade dieses Lied einmal Deutschland beim ESC vertreten könnte… Dass daraus nicht unbedingt Songs und Performances entstehen, die ganz Europa "in ihren Bann" ziehen, scheint logisch.

Vielleicht sollten sich die Verantwortlichen für den ESC fragen, ob es reicht, sich am Tag nach dem ESC für eine zweifellos großartige Einschaltquote bejubeln zu lassen oder ob es nicht gerade aufgrund des hohen Interesses an diesem Wettbewerb angebracht wäre, deutlich mehr Liebe und Sorgfalt auf die Auswahl eines geeigneten Songs zu legen. Der geeignete Interpret und die Performance sind dann oft erst der wichtige "Schritt 2".

Frank Ehrlacher – top-exklusiv für smago!
http://www.eurovision.tv
http://www.eurovision.de

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