KARAT
Das Album "Seelenschiffe" im Test von Holger Stürenburg!
Die CD hat es im Übrigen gerade auf Platz 92 der deutschen Album-Charts (ermittelt von Gfk Entertainent) geschafft!
Vor genau 40 Jahren im Januar gründeten einige Mitglieder der kurz darauf aufgelösten Jazzrock-Combo „Pantha Rei“ in Ost-Berlin die bis heute beständige Rockband „KARAT“. Von dieser versprach man sich eine ausgewogene Mischung aus kreativem Anspruch und breiterer Publikumswirksamkeit; zwei Faktoren, die bei der Vorgängertruppe nicht immer gegeben waren. Beides wurde mit „Karat“ jedoch flink erzielt, so dass das Sextett von nun an unzählige Hits vorerst nur in der „DDR“-Hitparade feiern konnte, bevor es 1979 erstmals in Westdeutschland auftreten durfte. Zeitgleich erhielten „KARAT“ über das Label Pool Records einen Plattenvertrag bei der Hamburger Company TelDec, die daraufhin die zweite LP der Gruppe, „Über sieben Brücken musst Du geh’n“, auch in der BR Deutschland auf den Markt brachte, hier jedoch unter dem Titel „Albatros“. Diese Entwicklung nahm westlich der Zonengrenze der unvergleichliche Gratwandler zwischen Rockschlager und Schlagerrock, Peter Maffay, aufmerksam zur Kenntnis und plante die bereits Ende 1978 im Osten von „Karat“ veröffentlichte, balladesk-philosophische Ode „Über sieben Brücken musst Du geh’n“, von ihm selbst neu eingesungen, als Singleaufhänger für seine betörende 1980er-Rock’n’Roll-Scheibe „Revanche“ ein. Mit dieser „deutsch-deutschen Originalaufnahme“ gelangte der damals wie heute höchst angesehene Deutschrocker bis auf Rang 4 der „Media Control“-Listen; das „Karat“-Original schaffte es hierzulande im Januar 1981 immerhin auf Rang 15 – und die Ostberliner Rockband war mit einem Schlag nun auch im Land des „Klassenfeindes“ bekannt.
Im Zuge der Irrungen und Wirrungen von Nachrüstung, Friedensbewegung und Raketenangst, einhergehend mit den wilden Aufwallungen der Neuen Deutschen Welle 1981/82, fanden viele West-Rockfans zunehmend Gefallen an „Karat“. Deren – insgesamt vierte – diesmal sehr New-Wave- und Synthi-lastige LP „Der Blaue Planet“ geriet zum Verkaufsrenner in Ost und West. Das dunkel-introvertierte, aussichtslos-ängstlich wirkende Titellied galt seinerzeit als vielzitierter Friedenshymnus, mit der zweiten Singleauskoppelung „Jede Stunde“, einem nur verhalten rockenden Synthi-Blues, traten die sechs Vollblutmusiker aus Ost-Berlin im September 1982 sogar in Dieter Thomas Hecks „ZDF-Hitparade“ auf und wurden dort umgehend auf den zweiten Rang gewählt.
Seitdem ist viel Wasser die Elbe herabgeflossen, Neue Deutsche Welle und Raketensorgen sind verhallt, die Mauer ist gefallen, der Kalte Krieg längst ein Relikt der Vergangenheit – doch „Karat“ gibt es immer noch. Selbst, wenn von der Urbesetzung niemand mehr mit von der Partie ist – der legendäre Bandmitbegründer, Keyboarder und Pianist Ulrich „Ed“ Swillms (der übrigens für die größten Hits seiner Band, „Brücken“, „Planet“, „Stunde“, kompositorisch verantwortlich zeichnete) ist a.D. 2015 nur noch beratend bzw. ab und an bei Liveauftritten dabei – haben sich die nun fünf Ostrocker, die seit dem Tod von Sänger Herbert Dreilich im Dezember 2004, von dessen Sohn Claudius vokalistisch angeführt werden, von keinen Wellen und keinen Wenden dieser Welt beirren lassen – und feiern am 20. Juni 2015 auf der Berliner Waldbühne mit einem großen Jubiläumskonzert ihre nunmehr vierzigjährige Bühnentätigkeit.
Aus diesem Anlass hat die aktuelle fünfköpfige „KARAT“-Formation dieser Tage bei Electrola/UNIVERSAL ein uneingeschränkt empfehlenswertes, klassisches Deutschrock-Album in guter, alter Tradition dieses Genres vorgelegt. Diese – im wahrsten Sinne des Wortes – hochkarätige Silberscheibe bietet fernab unnötiger neumodischer Sperenzchen und Zeitgeistanbiederungen, nichts anderes auf, als punktgenauen, oft gedämpften und dennoch vor Energie und Gestaltungswillen nur so übersprudelnden, handgemachten deutschen Gitarrenrock in verschiedensten Schattierungen. Das ganze fällt mal hymnisch-derb, mal folkig-betulich aus, immer getragen und stets erhaben, garniert mit häufig geradezu vorzüglicher Songlyrik aus der Feder des prominenten Leipziger Musikers und Textdichters Michael Sellin.
„SEELENSCHIFFE“ nennt sich der Strauß aus zwölf brandneuen „KARAT“-Werken, an deren Entstehung und Umsetzung der Berliner Produzent Ingo Politz (u.a. „Silly“, „Silbermond“, „Faun“) maßgeblich beteiligt war (während die Bandmusiker kaum als Songschreiber in Erscheinung getreten sind), und die durchgehend mit intelligentem, bilderreichem, klanglich, wie textlich höchst filigranem und atmosphärischem Rock-Pop mit Tiefgang, Seele und Hintersinn aufwarten.
Wir besteigen unser persönliches ‚Seelenschiff‘ mit dem so schleppenden, wie sich selbst gleichermaßen kraftvoll und zielstrebig vorantreibenden, folklastigen Eröffner „Was wär‘ geschehen“ und gehen zunächst bei einem schier rührenden, herbstlich-gemächlichen Resümee über die vorangegangenen heißen Monate vor Anker: „Nach dem Sommer“ besticht nicht nur durch eine traumhaft romantische, gitarrengeführte Melodie, sondern auch und ganz besonders mittels der erneut von Michael Sellin ersonnenen, enorm treffend gewählten Textworte. In ihrer Gesamtheit so einfach, wie eindringlich geraten, spießen die liebenswerte Reimen das ganz spezielle, aussichtslose Fluidum zum Ende einer Sommerliebe, wenn die dunkle stürmische Jahreszeit beginnt und nichts mehr bleibt, wie es ist, in sprachlicher Perfektion auf und stellen diese somit für jeden von uns nachvollziehbar und nachempfindbar dar.
Das nun angesteuerte, zurückhaltend und äußerst grazil arrangierte und trotzdem aufbrausend gefühlige Abschiedsszenario „Drei Worte später“ wurde u.a. von „SELIG“-Gitarrist Christian Neander geschrieben; ausschließlich auf sanfter Pianobasis, mit nur ganz wenigen, sachten Streichern ausstaffiert, perlt darauf folgend „Sie weiß nicht, was Liebe ist“ zerbrechlich und zartgliedrig kunstvoll vor sich hin: Ein intimes Weihelied für eine kühle, anmutige Frau, die von allen angeschwärmt und vergöttert wird, selbst aber niemals einzuordnen und zu erfahren vermochte, was es eigentlich bedeutet, Liebe zu geben und zu empfinden. Gleichsam innig, dezent, friedlich und geruhsam, ertönt nun der nochmals vom leisen Piano, gekonnt zusammengebraut mit stürmischen Gitarren- und Synthiwällen, bestimmte, auf sympathische Weise spröde Schleicher „Freunde“.
Bald darauf widmen wir uns malerisch und ruhevoll, in fast klassischem, symphonischen Soundambiente einer nachdenklichen Betrachtung des mystischen Phänomens „(Die) Erinnerung“ (Liedtitel), woran das wiegende, sich nach und nach klanglich aufbäumende, diesmal wiederum latent folkig-bluesig geprägte Duett mit Neo-Soulrocker Gregor Meyle, „Soll ich Dich befreien“, stilsicher anknüpft.
Das nun erklingende, prickelnde, hochgradig elegant und dicht, wenn auch ansatzweise maritim inszenierte (daher tatsächlich einwenig an „Santiano“ und Co. gemahnende) Titellied, wie auch der daran anschließende, straighte Muntermacher „Du kannst die Welt verändern“ sind glänzende, wehende, aufstrebende, breitflächige Gitarrenrock-Feuerwerke im Stile jüngerer Springsteen-Songs, bevor der so epische, wie mitreißende, mit weltmusikalisch anmutendem Sitar-Geplänkel und schwelenden, quietschenden Slide-Guitar-Spielereien angereicherte Rockohrwurm „Sag seit wann“ aus den Boxen dröhnt, der fulminant und nur konsequent in die rasante, zugleich rennende und brennende Gitarren-Hymne „Geschichten müssen enden“ mündet. Der gemütliche, bedächtige Pianoschleicher „Immer dann“ lässt die CD versöhnlich, friedvoll, mild und wohlig ausklingen und die „Seelenschiffe“ in ihren Heimathafen der Stille und Behaglichkeit zurückkehren.
„Karat“ haben es mit ihrem neuen Album „Seelenschiffe“ offenbar auf magische Art und Weise vermocht, auch einen bekennenden Nicht-Fan, wie den Rezensenten, für eine CD-Länge in ihren Bann zu ziehen. Ich bekam das Thema vor acht Tagen auf den Tisch und dachte… Nein, bitte, bitte keinen verquasten Ostrock, mit dem ich weltanschaulich eh nur allzu oft meine Problemchen auszufechten hatte… ich schob den Tonträger ungehört beiseite und nochmals beiseite… doch dann nahte der Abgabetermin unaufhörlich und ich beschloss, mir „Seelenschiffe“ eines Abends erst mal nach einem schönen Rotwein zu Gemüte zu führen. Das Album gefiel mir sofort… Am nächsten Morgen, die Probe aufs Exempel… auch unisono völlig nüchtern und ernüchtert funktionierte „Seelenschiffe“ bei mir mehr als nur gut und bezauberte mich bereits nach den ersten Takten. Die Jungs um Claudius Dreilich haben auf ihrem Jubiläumsalbum also offenbar wirklich so gut wie nichts falsch gemacht!
„Seelenschiffe“ ist eine unspektakuläre, wie wahrhaft imposante, ja im Grunde genommen beruhigende, tröstliche, dabei qualitativ überaus wert- und gehaltvolle Produktion ohne Schnickschnack und unnötige technische Beigaben. Die zwölf neuen „Karat“-Lieder sind sämtlich als bodenständig, rustikal und authentisch zu klassifizieren und zudem stets und ständig durchzogen von einem graziösen Flair von poppig-rockig verpacktem Anspruch und Tiefsinn in musikalischer, wie lyrischer Hinsicht!
Holger Stürenburg, 09./10. April 2015
http://a-f-music.de/
http://karat-band.com/