MILLIARDEN
Die CD "Betrüger" im Test von Holger Stürenburg!

“Es gab wirklich lange keine aktuelle Deutschrock-Produktion mehr, die mich so schnell und so intensiv ´umgehauen´ hat”, so der renommierte Musikjournalist! 

Es kommt nur sehr selten vor, dass ich die ersten Töne einer neuen, „modernen“ Deutschrockband vernehme (bzw. mich überhaupt dazu hinreißen lasse, diese zu vernehmen!) – und mir diese ersten Töne sogleich unverblümt aus dem Herzen sprechen, in mir Appetit anregen auf mehr, mich dazu becircen, mich mit eben einer solchen jungen Truppe intensiver und eingehender auseinanderzusetzen.

Doch genau jenes, im Zuge der letzten Jahre zunehmend weniger vonstattengegangene Naturereignis, hat mich dieser Tage mit vollster Wucht ereilt. Ich bekam von einer Plattenfirma – genau gesagt, in diesem Falle von VERTIGO/Universal – erste Informationen, ein paar Links, einige Videoclips, über eben eine „moderne“ Deutschrockband übermittelt…  ich sah mir all dies an… und war vom ersten Moment an regelrecht euphorisch begeistert von dem, was mir vorgesetzt worden war.

Man nehme die zukunftsweisende Radikalität von „Ton Steine Scherben“, den frechen Pop-Punk der frühen „Toten Hosen“ oder von „Extrabreit“, füge eine superbe Portion David Bowie seiner Berlin-Phase hinzu, gedächte der bluesigen, willentlich ausgelebten Düsternis von „Joy Division“ oder Morrissey… fertig sind, in bestem, mächtigstem Sound der Gegenwart gehalten, die „Milliarden“.

Es war ein wahrhaftig diebisches Vergnügen für mich, am vergangenen Mittwoch zu meinem Postfach zu fahren und aus demselben ungelogen „Milliarden“ herausfischen zu können… ich fühlte mich, als befände ich mich in jenen Sekunden leibhaftig in Panama und/oder wäre ich ein IOC-Funktionär… die „Milliarden“ sprossen also aus meinem – völlig legalen – Postfach in Gelsenkirchen-Altstadt…

Ja, denn „MILLIARDEN“ nennt sich eine vorzügliche und hochtalentierte Deutschrock-Formation aus Berlin, eigentlich eher ein Duo, bestehend aus dem Sänger und Gitarristen Ben Hartmann und dem Multiinstrumentalisten Johannes Aue, die sich, gar nicht so weit weg von Gelsenkirchen-Altstadt, in der Musikhochschule zu Bochum kennengelernt hatten, daran anschließend – um mit dem Kollegen John Watts zu reden – „Back to Berlin“ letztlich DIE Deutschrock-Neuentdeckung des Jahres 2016 begründeten und nun dieser Tage mit ihrem schier phänomenalen Debütalbum „BETRÜGER“ an die Öffentlichkeit traten!

Spitze, nachdenkliche, zugleich sprachlich brillant ausformulierte, teils avantgardistische, stets enorm mutige, quergedachte Texte, paaren sich in den 14 Liedern von „Betrüger“ auf höchst ambitionierte Art und Weise mit rüden, rohen, lauten, trotzdem weitetestgehend geschmeidigen und äußerst anspruchsvollen Melodien, rast- und ruhelos getrieben von Gitarre, Bass, Schlagzeug und oft in klassischem 80er-Jahre-Klangmilieu verharrenden Synthesizern.

Im krachenden, punkig-bluesbetonten Eröffner „Oh Cherie“ – nein, dies ist alles andere, als eine (wie die Betitelung vermuten lassen könnte) lieblich-romantische Liebesschnulze für irgendeine zierliche Französin – dreht es sich, in durchaus drastischen, aber niemals vulgären, sondern durchwegs kunstvollen, verspielten Worten, um eine innige Sado-Maso-Beziehung. Zitat gefälligst?!: „Oh Cherie / Du blutest wunderschön… wir sind das Trauma / und die Therapie“. Dies ist keine plumpe Gewaltverherrlichung, wie sie bedauerlicherweise in schmutzigen Rap- und Hip-Hop-Phrasen nur allzu häufig zu hören sind (obwohl diese ja eigentlich per se unhörbar sind), dies ist pure, leidenschaftslose Leidenschaft der anderen, der gewiss spezielleren Art.

Die aktuelle Single „Im Bett verhungern“ stellt tatsächlich ein echtes und liebevolles Liebesgeständnis dar: Der Protagonist könnte, wenn er es denn wollte, seine Hübsche ab und zu mal verlassen, in  die Stadt fahren, etwas zu essen und ihr teure Kleidung kaufen – aber er möchte sie niemals alleine lassen, pausenlos bei ihr bleiben und als letzte Konsequenz mit ihr „lieber verliebt im Bett verhungern“ (Zitat), als auch nur eine Sekunde lang von ihr zu weichen. Dieses naiv-verliebte Gefühlschaos findet musikalisch bzw. harmonisch irgendwo in den weiten Sphären von David Bowies sagenhaftem Generationenhymnus „Heroes“ statt, so dass dieser wundervoll eindringliche Titel ohne weiteres zur besten muttersprachlichen Bowie-Variation seit Falcos „Helden von heute“ ausgerufen werden kann.

Wiederum voranpreschender, schneller Gitarrenrock untermalt den antihedonistischen, ‚gefühlten‘ „Milliardär“, dem jeder Luxus seit jeher fremd ist, der insbesondere deshalb so „schweinereich“ ist, weil er eben kein Geld besitzt, der nichts besitzt und genau dieses ‚nichts‘ nie mehr hergibt, woraufhin ein Rio-Reiser’esquer, flehend-brennender Emotionsschrei namens „Bleib hier“, voller Qualen, ehrlichen Herzschmerzes, und prallgefüllt mit dem Ansinnen auf Verzeihung, Vergebung und Neuanfang in der Beziehung, dem genussvoll aufmerksamen Rezipienten aus dem Lautsprecher förmlich unisono in Gesicht, Herz und Bauch springt.

Der eher sanfte Mid-Tempo-Gitarrenpop „Betrüger“ präsentiert sich als selbstironisch, selbstbezichtigend und autobiographisch in einem, „Freiheit ist ´ne Hure“ ist hingegen eine hochspektakuläre Moritat, ein reales Klagelied im phonstarken Heavy-Gewand, welches im Frühjahr 2015 als Soundtrack des Speifilms „Tod den Hippies! Es lebe der Punk“ zum Einsatz kam und dadurch die „Milliarden“ somit erstmals als neues, aufsehenerregendes Bandprojekt der breiteren Öffentlichkeit vorstellte.

Der so geheimnisvollen wie zweifelhaften, womöglich gar vollends destruktiven „Marie“ huldigen die „Milliarden“ mittels einer tief im drallen New-Wave-Klangbild der ersten Hälfte der 80er Jahre verhafteten Pop-Punk-Orgie; als ebenso strikt 80er-beeinflusstes Powerpop-Gitarrenfeuerwerk a la „Cars“ oder Billy Idol, erklingt daraufhin die nebulöse Hommage an die US-Sängerin „Katy Perry“ (Liedtitel).

Im hochexplosiven, mehr geschrienen, denn gesungenen Punkexzess „Blitzkrieg Ballkleid“ reihen Ben und Johannes einfach nur Vokabeln, Reizworte, Parolen, Spontisprüche, ob negativ belastet oder positiv besetzt, scheinbar wahllos aneinander – um dann unverhohlen zu bekennen: Das bin ja ich / ich spiegel mich“ (Zitat) – ein Reiser’sches „Alles Lüge“ in einer Version 2016?  Oder doch eine gleißende Verzerrung von Billy Joels „We didn’t start the Fire“, 27 Jahre danach? Wer weiß es schon? Weiß es das Duo selbst überhaupt oder sollen wir Zuhörer es erraten und uns währenddessen in den Tiefen und Untiefen des sich immer schneller drehenden Weltgeschehens verwirren und verirren?

Bislang war mir die Stadt Friedrichsdorf im Hochtaunuskreis, gelegen im Bezirk Darmstadt, kein Begriff. Ich wusste gar nicht mal, ob es sie überhaupt gibt (oder ob es sie, wie einige Verschwörungsfreaks immer wieder mal behaupten, ähnlich wie Bielefeld, gar nicht gäbe)… Dieses Städtchen, regiert von dem Grünen Bürgermeister Horst Burghardt, bewohnt von ca. 25.000 Einwohnern, bildet die Grundlage für eine so gelungene, punktgenaue, wie skurrile und mystische Ehrerbietung der „Milliarden“ zugunsten von Ian Curtis, dem britischen Wave-Wunderkind und einstigen Begründer der 80er-Legende „Joy Division“ (erinnere: „Love will tear us apart“), der an schwerer Epilepsie litt und sich im Mai 1980, erst 23jährig, erhängte. Vielleicht sind es die Tristesse und Unbedeutsamkeit von „Friedrichsdorf“, welche die „Milliarden“ dazu veranlassten, eben diese Kleinstadt zum Handlungsort ihres so prachtvollen, wie bitteren Ian-Curtis-Gedenkliedes zu küren und diesen melancholisch-regentrüben, hintergründig rockenden, dabei schleppenden, aussichtlos wirkenden Titel auch ebenso zu benennen, welcher lyrisch in „Dead Souls“, einer 1979 entstandenen Nummer, eben von „Joy Division“, mündet.

Der elegant swingende, bläserverstärkte  Pop/Rock-Verschnitt „Zucker“ behandelt die unheilbare Sucht, das unbändige physische, wie seelische Verlangen, nach einer offenbar unübertrefflichen Frau, die so ist „wie Zucker auf der Zunge“ (Zitat), „Nikotin in meiner Lunge“ (dto.) und „auf Drama macht, wie Schiller“ (dto.); als nächtlich, geradezu bedrohliche Blues/Grunge-Aufruhr kehrt eine außerordentlich ungute, zermürbende, zerberstende Lady mit Namen „Die Angst“ in das fragile Leben des Lied-Ichs in ebenjenem lodernden Psychodrama ein.

Im brachialen, peitschenden, brüllenden Radikalo-Punk „Ende neu“ bekennt, voller konstruktiver Obstruktion und aufbauender Zerstörungswut, das Lied-Ich rabiat und progressiv „ich mache den Tod kaputt“ (Zitat), bevor das ungewohnt fröhlich und leger arrangierte Folkrock-Chanson „Schall und Rauch“ bedächtig, schwebend und in die weite Ferne schweifend, die vielleicht großartigste deutsche Rockproduktion des Jahres 2016 vordergründig friedsam, überzeichnet gemütlich, und dennoch gleichermaßen kompromisslos und revolutionär abschließt.

Aktuell, zum 20. Todestag von Deutschrock-Mitbegründer Rio Reiser, schicken sich alle möglichen Popmietzen und Jammerbarden an, sich jeweils zur Nachfolgerin, zum Nachfolger, von König Rio, dem Ersten zu erklären. Sie möchten ihrem Idol in fraglos edelster Absicht die Ehre erweisen, geben aber mit nicht wenigen ihrer mainstreamhaften Nachempfindungen seine Majestät eher der Lächerlichkeit preis. Das wahre Erbe des famosen einheimischen Rockpioniers und sensiblen Pop-, wie Politlyrikers aus Fresenhagen anzutreten, ist eine außerordentlich schwere, vermutlich kaum zu bewältigende Aufgabe, die bei genauerem Hinsehen im Prinzip unerfüllbar ist. Die beiden Herren der „Milliarden“ allerdings besitzen eine ganze Menge davon, was man in sich tragen muss, um sich mit Rio Reiser und/oder seiner einstigen Combo „Ton Steine Scherben“ in irgendeiner Form überhaupt messen lassen zu können. Ben Hartmann und Johannes Aue sind roh, manchmal derb, dauerhaft offenherzig, ungekünstelt und ehrlich, verstecken und verstellen sich nicht. Sie klingen zeitnah und trotzdem für in den 70ern und 80ern musikalisch sozialisierte Gehörgänge mehr als nur prickelnd, anmachend, anregend. Sie spielen grenzenlos mit Worten, Gedanken, diversen Stilformen von Sarkasmus und Ironie, bringen ihre stimmungsvollen, oft brutalst authentischen Texte glaubhaft rüber, basierend auf gutem, altem Gitarrenrock, Punk und Power-Pop im besten Sinne der 80er Jahre, ohne dabei gestrig, altbacken oder gar langweilig aufzutreten. „Milliarden“ sind die personifizierte Antipode zur Spießigkeit, zur Ödnis, im Grunde genommen zur weit verbreiteten Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit der oft so abstoßend subtanzlosen Jetztzeit. „Milliarden“ vermeiden politische Aussagen, sind aber trotzdem – oder vielmehr gerade deshalb – pointiert hochpolitisch, spießen sie brisant und exemplarisch den Zeitgeist auf, nähern sich ihm lauernd und beobachtend an, halten aber die notwendige kritische Distanz zu ihm – all dies und noch viel mehr sind ideale und tadellose Vorzüge und Bekenntnisse einer Band, die weltschmerzt, ohne dem Weltschmerz zu verfallen, die Kritik übt, ohne überheblich den Zeigefinger zu schwenken, die moralisch ist, ohne moralinsauer zu sein, die über Liebe, Sex und Übermut singt, schreit, gellt, ohne jemals sentimental, pornographisch oder übermütig aufzuscheinen.

Für mich – den bekennenden Zeitgeist-Verächter, den nicht linken Rio-Reiser-Fan, den so konservativen, wie weltoffenen Deutschrock-Apologeten – ist die CD „BETRÜGER“ des Berliner Duos „MILLIARDEN“ schon heute, Mitte August, DAS durchschlagendste deutschsprachige musikalische Großereignis anno 2016 – und dieses ist, ganz banal gesagt, wirklich nur jedem aufgeschlossenen Freund guter Unterhaltungsmusik wärmstens zu empfehlen!

Holger Stürenburg, 18./19. August 2016
https://www.facebook.com/MusikBlog
http://www.milliardenmusik.de/

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