NIEDECKENS BAP
Die CD "Lebenslänglich" im Test von Holger Stürenburg!

Das Album hat es auf Platz 3 der Offiziellen Deutschen Charts geschafft! 

40 Jahre ist es nun her, dass der damals 25jährige Kunststudent WOLFGANG NIEDECKEN am Küchentisch seiner Bude in der Teutoburger Straße 5, gelegen zwischen dem Kölner Römerpark und der verkehrsüberlasteten Bonner Straße, mitten in der sagenumwobenen Südstadt vun Kölle am Rhing, die liebenswert selbstmitleidig-wehmütige Gitarrenballade „Helfe kann Dir keiner“ schrieb. Als er diese aus einer melancholischen Situation heraus geborene Nummer einem Freund namens Hans Heres, der ja ooch janz joot op der Jitarr spillte, vorsang, meinte dieser dem Sinne nach: Davon musst Du mehr schreiben, mehr auf Kölsch, das ist ehrlicher, direkter, pointierter, als Hochdeutsch und als Englisch sowieso.

Dat woor vöör 40 Joohr streng genommen das Ursprungsdatum einer domstädtischen Band, die im Laufe der Zeit weit über das Rheinland hinaus, bundesweit, europaweit, auch in vielen ferneren Ländern der Erde, von China über Mozambique, bis nach Uganda oder Sierra Leone, Rock’n’Roll-Geschichte schrieb. Vor 40 Jahren erwachte also „BAP“, eine lebensfrohe Musikerfamilie, die, trotz vieler Mitgliederwechsel oder manch schwächerer Periode, seit vier Jahrzehnten kontinuierlich für handgemachte, grundsolide, sagen wir: amtliche Rockmusik steht, die selbstverständlich in erster Linie von den mal filigranen, romantisch-malerischen, gerne auch mal beißend-angriffslustigen, hierbei durchwegs poetisch-bildhaften, rigoros durchdachten, üppig wortreichen Texten von „BAP“-Gründer Wolfgang Niedecken lebt.

Für die Kinder der 70er und 80er Jahre, so sich diese, nicht scheuklappenbehaftet oder ideologisch dogmatisch, für deutsche bzw. in diesem Falle op Kölsch jesungene Rockmusik interessierten, sich mit den politischen und gesellschaftlichen Kontroversen jener Tage, vom NATO-Doppelbeschluss bis zur WAA Wackersdorf, beschäftigten, gehörten „BAP“ unverbrüchlich zu Adoleszenz, Jugend und Erwachsenwerden dazu. Ob  ehrgeizige Untermalungen der „Friedensbewegung“ in West („10. Juni“, 1982) und Ost („Deshalv spill mer he“, 1984), surreale („Alexandra – Nit nur Do“, 1984, „Rita, mer zwei“, 1999, „Hoffnungslos hin“, 1993), wie intime, fragile („Do kanns zaubre“; 1982, „Jraaduss“, 1981) Liebeslieder, famos ausformulierte Gedanken, Impressionen, Beobachtungen, Betrachtungen und Gefühlserlebnisse („Zofall un je janz klei‘ bessje Glöck“, 1984, „Met Wolke schwaade“, 1993), aber auch ironisches, bissiges, witziges, vom skurrilen „Alptraum eines Opportunisten“ (1979) bis zum unwahrscheinlich schnellen „Waschsalon“ (1981), oder widerspenstige, drastische, innerlich zerrissene, dabei aber ein ums andere Mal inbrünstige Liebeserklärungen an Köln, also die „Stadt em Niemandsland vun Preußen“, wie es 1988 auf der LP „Da Capo“ im rockigen „Bon Jovi“-Sound so schön hieß – eigentlich hatten „BAP“ für die heute 40 bis 50jährigen zu beinahe jedem Lebensabschnitt, jeder persönlichen Episode, Begebenheit, jedem Kuriosum, Empfinden, Leiden und Freuen, jeder Glücks- oder Pechsituation, ein spezielles Lied auf Lager, in dem sich nicht wenige Altersgenossen des Rezensenten häufig eins zu eins wiederfanden.

Nach dem phantastischen Doppel-Album „Radio Pandora“ (2008), mitsamt ausgiebiger Tour und dem – subjektiv betrachtet – eher durchwachsenen Studiowerk „Halv su wild“ (2011), stockte uns „BAP“-Fans im Herbst 2011 der Atem, als Sänger, Erzähler und Lyriker Wolfgang Niedecken einen Schlaganfall erlitt, den er aber gottseidank gut überstand. Trotzdem fanden neue musikalische Anläufe nach der Genesung zunächst, verständlicher Weise, erst mal nicht im rasenden, lauten, emsigen Stadionrock-Kontext statt, sondern in einem „stromlosen“ (vulgo: „Unplugged“-)Verfahren. Dies geschah 2013/14 mittels der offiziell als Soloarbeit von Wolfgang deklarierten, akustischen, sehr in sich gekehrten und feingliedrigen Liedsammlung „Zosamme alt“, gefolgt von einer entsprechend ruhig-gemächlichen Konzertreise, die unter dem Motto „Das Märchen vom gezogenen Stecker“ auf der gleichnamigen Live-Doppel-CD/DVD für die Nachwelt festgehalten wurde.

Aus Anlass des Gründungsjubiläums jedoch, rief der im vergangenen Herbst mit dem „Rheinischen Kulturpreis“ ausgezeichnete Songpoet seine aktuelle „BAP“-Formation für ein elektrisch verstärktes, neues Rockalbum und die bald beginnende, umfangreiche Deutschlandtournee zum 40jährigen Bestehen der Firma „BAP“ zusammen. Diesmal mit von der Partie sind, neben dem unersetzbaren Gründungsbapp der Kapelle, Bassist Werner Kopal (uns 80er-Kindern noch als „Deserteur“ in Wolf Maahns damals ebenso benannter Begleitband geläufig), Keyboarder Michael Nass, seit 1999 durchgehend Mitstreiter bei „BAP“, die Hamburger Multiinstrumentalistin Anne de Wolff, die zuletzt mit so unterschiedlichen Interpreten, wie „Rosenstolz“, Ulrich Tukur oder gar Helene Fischer, meist als Geigerin und Violinistin unterwegs war, ihr Gatte Ulrich „Ulle“ Rohde an der Gitarre, der gebürtige Marokkaner Rhani Krjna, der sogar schon mal mit Ex-„Police“-Sting die Welt konzertär umreiste, am Percussion, und der erst 33jährige, aus Hamburg-Eimsbüttel stammende Schlagzeuger Sönke Reich, der gerade zu jenem Zeitpunkt auf die Welt gekommen war, als seine heutigen Brötchengeber „BAP“ soeben alle Rekorde mit ihrer Live-Doppel-LP „Bess demnäxh“ brachen.

Mit dieser Besetzung im Hintergrund, hat Wolfgang Niedecken, wie zu Anfangszeiten wiederum unter dem Bandnamen „Niedeckens BAP“ firmierend, größtenteils im „BluHouse Studio“, das von Anne de Wolff und ihrem Gatten Ulrich Rohde in der Hansestadt betrieben wird, von den beiden produziert und überwiegend zugleich komponiert, das aktuelle „(Niedeckens) BAP“-Opus „LEBENSLÄNGLICH“ (Vertigo/UNIVERSLA) eingespielt, das nun seit einigen Tagen als CD, Doppel-LP und „De Luxe Edition“ (mit CD und DVD) vorliegt, bisweilen auf Rang 3 der einheimischen Albumcharts thront, und als programmatische Leitlinie für die kommende Tour von „BAP“ dienen soll.

Schon in musikalischer Hinsicht, sind die 14 plus zwei Bonustitel außerordentlich vielseitig, mannigfaltig und abwechslungsreich geraten. Obwohl nahezu durchgehend ein sacht spröder, introvertierter, zumeist gitarrenorientierter, sagen wir ohne Umschweife: rauer, reifer, erwachsener Grundton zu verspüren ist, und das Album fraglos sehr amerikanisch produziert und abgemischt wurde, finden sich auf „Lebenslänglich“ sowohl geruhsame, zerbrechliche, semiakustisch inszenierte Folkrock-Balladen und epische, gekonnt ausgewalzte, nicht aus der Ruhe zu bringende Monumentalschleicher, als auch (wenn auch diesmal nur vereinzelt) gewohnte, rockige Ambitionen, angesiedelt zwischen „Stones“ und Springsteen, vermengt mit neuartigen, experimentelleren Klängen, die aff un zo mal ‚für ´ne Moment‘ sujar mol in Richtung Jazz, Swing, Blues, Chanson, Traditional Folk oder gar Ragtime blicken. Neuere Werke langjähriger Niedecken-Vorbilder, wie Dylan, eben Springsteen, Tom Petty oder Neil Young, standen bei der Entstehung der Melodien und Auskleidungen zweifelsfrei und unüberhörbar Pate, was dem ganzen Unterfangen ein zwar gediegenes und längst liebgewonnenes, aber dennoch zeitnahes, offenes und keineswegs angestaubt tönendes Flair verabreicht.

Inhaltlich blickt der 66jährige „Südstadt-Dylan“, wie man den bekennenden Verehrer von „His Bobness“ während der ersten Jahre seiner Karriere in der Presse oft und gerne nannte, oft zurück, lässt manches Schöne, Nachdenkenswerte, Gefühlvolle und gleichermaßen Groteske aus seinem eigenen Leben, aus seinem kreativen Schaffen mit seiner Combo “BAP“, nochmals Revue passieren – häufig verträumt, verklärt, sentimental und trotzdem konsequent zukunftsorientiert und ins Morgen schauend, kaum garstig oder womöglich enttäuscht, aber immer wieder den Finger direkt in die klaffende Wunde legend.

Allein der zunächst ausgeprägt sanftmütige, dann immer mehr aus sich herausbrechende, gegen Ende hin latent  country-angehauchte Folkrocker „Alles relativ“ beschreibt innerhalb von fünf Minuten und siebzehn Sekunden 66 Jahre Wolfgang Niedecken und 40 Jahre „BAP“ in einem: Kompakt, versöhnlich, friedvoll und mit sich selbst, dies ist anhand jedes Taktes, jeder Silbe, handfest spürbar, so es geht im Reinen – woraufhin sich der rundheraus einwenig lakonisch bis abgeklärt, aber weiterhin und offenkundig unbremsbar im Sinne eines ‚Angry Young Man‘ fühlende Jubilar kritisch, warnend, zweifellos trotzig bis wütend, auf eine düster-gitarrenlastig-rockige Reise durch unsere chaotische Welt in ihrem heutigen Ist-Zustand begibt, die er durchaus ernüchtert, daher recht zynisch und (kultur)pessimistisch, nur noch als reales „Absurdistan“ (Songtitel) bezeichnen kann und will.

Lyrisch (und entfernt auch musikalisch) an das ewig unterschätzte 1988er-Meisterwerk „Rääts un links vum Bahndamm“ (das W.N. sowohl für das Liverepertoire zu „Radio Pandora“, als auch für seine Soloscheibe „Zosamme alt“ gottlob nach über 20 Jahren wieder ausgepackt hatte), gemahnt der textlich philosophisch-gedankenvoll-beschauliche, in Sachen instrumenteller Umsetzung demgegenüber knackig, lautstark, deftig vorantreibende Riffrocker „Dä Herrjott meint et joot met mir“. In diesem kernigen Stück Rockmusik zeichnet der begnadete Livekünstler vier Dekaden brachialen Tourlebens mit samt seiner (ihm nicht selten regelrecht peinlich erscheinenden) Prominenz als ‚gefeierter Rockstar‘ mit einem liebevollen Augenzwinkern versehen, rückblickend, im Zuge einer imaginären, nächtlichen Busfahrt im „Nightliner“ von einen Konzertort zum nächsten, wortgewandt und voller zeitgeschichtlicher Relevanz nach.

„Die Ballade vom Vollkasko-Desperado“ ist eine Art ernsthafter zu betrachtender „Müsli Män“ 2.0. Sie bietet auf dem klanglichen Fundament einer über sechsminütigen, nur verhalten bzw. unterschwellig rockenden, zeitgemäßen Talking-Blues-Komposition, mit völlig stilfremdem, aber gerade deshalb so tollen, jazzigen, Saxophon, schwülstigen, mediterran schwelgenden Trompeten und betont freundlichen Streichern verfeinert, die satirische Aufspießung von zeigefingerschwenkenden Freizeit-Revolutionären, Salon-Sozialisten und ökologisch engagierten Philistern, die alles und jedes kritisieren, insbesondere natürlich genau das, was ganz, ganz weit weg von ihnen so alles Schreckliches passiert, während sie selbst sich, finanziell bestens abgesichert, in einer vor sich hin brodelnden, dabei erbärmlich langweiligen Bürgerlichkeit auf irgendwelchen glänzenden Elfenbeintürmen suhlen.

Eine aufrichtige, authentische, tatsächlich packende und elektrisierende,  und – dies vermittelt gerade dieses Lied eindeutig – garantiert an realen Erlebnissen des Künstlers orientierte Hommage an eine frühe Liebe, an ein wildes Mädchen mit einer „France-Gall-Frisur“ (Textzitat), das alle 14 Tage den Liebhaber wechselte, den jungen Wolfgang N. zu seinen ersten selbstverfassten Lieder inspirierte – und diesen letztlich bis heute niemals losgelassen hat –, schildert zart, gelichtet und bemerkenswert romantisch der frühlingshaft perlende Akustik-Folk-Schleicher „Miehstens unzertrennlich“; ohne Zweifel einer der – wörtlich – schönsten, innigsten,  leidenschaftlichsten, vertrautesten Texte, die Herr Niedecken in den letzten Jahren so zu Papier gebracht hat!

In der ausgeglichenen, streicherverzierten Folk-Nummer „Et ess lang her“ legt der „BAP“-Frontmann seine Eindrücke und Intuitionen dar, die ihn durchzogen hatten, als er am Rosenmontag 1981, ein halbes Jahr nach dem Tod seines Vaters, die ersten Verse zu seinem – späteren – Superhit „Verdamp lang her“ ersann, zu einem ganz persönlichen, gesungenen Gespräch mit seinem Vater, an dessen Weltsicht er von jeher verzweifelte und sich ihm trotzdem bis heute immer wieder extrem nah fühlt – weshalb „BAP“ ja auch bei keinem einzigen Konzert nach 1981 auf die konzertäre Zelebration dieses musikalisch verarbeiteten Vater-Sohn-Konfliktes verzichtet haben. Im voranstrebenden Gitarrenrocker „Dausende vun Liebesleeder“ gedenkt Wolfgang Niedecken hingegen seiner Zuneigung zu seiner ihm manchmal fremden, doch meistens viel zu nahen Heimatstadt Kölle am Rhing, zwesche „Die Bröcke, dä Dom, die Jivelle vun dä Altstadt“ (Textzitat). Schleppend, betulich und gleichermaßen entspannt, salopp und brechend zwanglos, skizziert daraufhin die weitschweifige, sehnsuchtsvolle Rockballade „Auszeit“, im unverkennbaren Tom Petty-Stil, eine ebensolche Phase totalen Aussteigens, Ausruhens, Kurzzeit-Flüchtens vor allem Übel dieser Welt.

Um das ängstliche, hier vollkommen unfreiwillige Fliehen vor Krieg und Hunger aus Timbuktu in Richtung Spanien, dreht es sich im Gegensatz dazu, im so aufgewühlten, wie aufwühlenden, von massig (mit vollster Absicht) bedrohlich und stürmisch wirkenden Streicherorgien zum Ausbruch getriebenen Folk-Blues-Drama „Vision vun Europa“, wobei diese erträumte „Vision“ von einem besseren Leben in Europa bei einer Schiffskollision vor Gibraltar ihr grausames Ende findet.

Der zutiefst persönliche, vertrauliche und diskrete Schleicher „Zeitverschwendung“ ist Wolfgangs zweiter Ehefrau Tina gewidmet, die ihn inzwischen auch schon rund 30 Jahre durch alle Höhen und Tiefen des Daseins begleitet, weshalb der singende Familien-Bapp, immer noch verliebt, wie am ersten Tag, feststellt „dat jed‘ Sekund ohne dich Zeitverschwendung ess (Textzitat).

Als 1985/86 im Zuge der Vorbereitungen der bis heute umstrittensten (weil technisch massiv überfrachteten) „BAP“-Produktion „Ahl Männer, aalglatt“, bezüglich derer Wolfgang dem Rezensenten im Frühjahr 2000 vor einem Konzert im Münchener „Circus Krone Bau“ betörend offenherzig eingestand, dies sei „unser schlechtestes Album“ (Zitat) gewesen, der bisherige Schlagzeuger Jan Dix, entnervt von der miesen Studioatmosphäre, die „Firma BAP“ verlassen hatte und 1987 der daran anschließend von der britischen New Wave Band „After the Fire“ zu den Kölschrockern gestoßene Drummer Pete King unverhofft an Hodenkrebs verstorben war, stieg der Mega-Schlagwerker Jürgen Zöller, zuvor, wie der heutige „BAP“-Bassmann Werner Kopal, bei Wolf Maahns „Deserteuren“ aktiv, von heute auf morgen bei „BAP“ ein, und blieb der Truppe bis 2014, also ganze 27 Jahre lang, treu.

„Der Jürgen trommelt wie Fitzcarraldo“, hieß es bald seitens seines Band-Chefs, er sei eine Art „Klaus Kinski der Schlagzeugkunst“… weshalb auf „Lebenslänglich“ eine gesungene Freundschaftserklärung und Danksagung an Jürgen Zöller eindrucksvoll zum Zuge kommt: „Schrääsch hinger mir“ führt zurück zu einem Festivalauftritt im Spätsommer 1987 im Saarland, der als Aufwärm-Auftritt für die folgende China-Tour diente, und sinniert über denjenigen wilden Schlagzeuger, der seit jenem denkwürdigen Tag im Dienste von „BAP“ – und ich habe ihn mehrfach live bewundern dürfen, sowohl bei „BAP“, als auch früher bei Wolf Maahn, kann dies also nur bestätigen – wahrlich wie der personifizierte Trommel-Wahnsinn sein Instrument bearbeitet hatte, so dass einem wohlig Hören und Sehen verging. Heute genießt der 68erjährige Vollblutmusiker sein Dasein als junger Familienvater und hat sich, wie zu lesen ist, sehr über die ihm gewidmete Ballade gefreut.

Beflissen religiös und literarisch-philosophisch wird’s nun im Banjo-getriebenen, erneut mit spitzfindigen Trompeten, Klarinetten und Saxophonen ausstaffierten, musikalisch außerordentlich spannungsgeladen und vielfältig ausgekleideten Folk-Pop-Blues-Ragtime-Oldtime-Jazz-Verschnitt „Sankt Florian“, der sich inhaltlich an Johan-Peter Hebels Kalendergeschichte „Kannitverstan“  entlangschlängelt.

Ja, und „Komisch“… da schlägt das Herz des Verfassers dieser Zeilen sogleich beim ersten Anhören von „Lebenslänglich“ in höchste Höhen – ess nix anderes, als eine stille, eindringliche Neuauslegung, ein bizarres Deja Vu, eine träumerische Rückkehr an den Ort desjenigen Geschehens, wo 1984 einer der ganz großen „BAP“-Favoriten meiner Person so vonstattenging: Dies war ein Lied, welches ein Gemälde des griechisch-italienischen, metaphysischen Malers Giorgio de Chirico, in Verbindung mit dem – ebenso surrealen – Plot von Bob Dylans genialischem „Simple Twist of Fate“, in Töne und eins zu eins den Kern Sache treffende Worte fasste; eine fiktive, hypothetische Geschichte zweier von Liebe und Hoffnung verlassener, an sich selbst und dem jeweils anderen gescheiterter Menschen, eine klingende Novelle, im Rahmen derer letztlich, alles was passiert, nix anderes woor, als „nur 'ne Zofall un e janz klei' bessje Glöck, Mann…" (Text, 1984) – wobei diesmal tatsächlich Dylans Originalmusik, wenn auch stark verlangsamt, dunkel und stimmungsbezogen aussichtslos und resignativ umgesetzt, als Grundlage für Wolfgangs schier phantastische Wortkaskaden dient.

Zum regulären Abschluss von „Lebenslänglich“ führt eine unaufhaltsame Odyssee vom legendären „Bahnhofskino“ aus in ein Universum der „Unendlichkeit“ (Songtitel), bevor der lokalpatriotische Willi-Ostermann-Heimatgruß „Heimweh noh Kölle“ von Wolfgang in einem entschlackten Tom-Waits-meets-Bob-Dylan-Modus voller Sehnsucht und Authentizität nachempfunden wird und als zweiter Bonus-Titel die bedeutungsschwangere Ballade „Schritt für Schritt“ hier analysierten Tonträger endgültig beschließt!

40 Jahre „BAP“ – ein popkulturelles Ereignis, das in der einheimischen Rockmusikszene wahrhaftig seinesgleichen sucht. Denn Wolfgang Niedecken und seine Begleiter schafften es nicht nur über vier Dekaden lang konstant, schnörkellosen Rock’n’Roll mit Biss und anspruchsvolle Balladen voller Tiefgang ein ums andere Mal mittels höchst intelligenter, versierter, substanzreicher Texte zu verbinden, zu verstärken, auszufüllen, sondern gelang es ihnen darüber hinaus in bester Manier, den Kölschen Dialekt, der zuvor bestenfalls im althergebrachten Karnevalsschlager einmal pro Jahr hervorgeklüngelt wurde, bundesweit und, wie geschildert, in vielen fernen Ländern auf der ganzen Welt, bekannt zu machen und als sehr brauch- und umsetzbare Sprooch bzw. Verzäll in Verbindung mit Rock und Blues langfristig zu etablieren.

Auch für den Verfasser dieser Zeilen stellen „BAP“ ein reales, beinahe tatsächlich „lebenslängliches“ Phänomen dar, das ich in meiner eigenen Geschichte, erst als Musikfreund, -hörer, -begleiter, später als auf diesem Gebiet tätiger Journalist und Analytiker, besonders in dieser imposanten und ungewöhnlichen Form, sonst kaum erlebt habe. Im Grunde genommen, sind zwei sehr unterschiedliche Damen „schuld“ an meiner tiefgehenden Verehrung für Wolfgang Niedecken und die Seinen. Dies wäre zum einen unsere damalige Nachbarin, Gitta W., die Schwester von Udo Lindenbergs 1986 verstorbener „Panik-Sekretärin“ Gaby Blitz (Gaby Aukam), die bei uns im Haus in Hamburg-Lokstedt wohnte, beim Konzertveranstalter Karsten Jahnke tätig war, und mich damals, mit elf, 12, 13 Jahren, immer wieder mal mit Promo-LPs und/oder Freikarten von Jahnke-Events ausstattete. Im Herbst 1983, lieh sie mir also die soeben erschienene Live-Doppel-LP „Bess demnäxh“ aus, die mir, zunächst rein musikalisch, sehr zusagte. So legte ich mir daraufhin bald die weiteren, bis dahin erschienenen, ersten vier „BAP“-LPs zu und freute mich wie sonst was, auf die 1984er-Scheibe „Zwesche Salzjebäck un Bier“ im Mai und die dazugehörigen Hamburger Open-Air-Konzerte im September des „Orwell-Jahres“.

Allerdings wollte ich klarerweise ebenso gewiss nachvollziehen können, was Herr Niedecken inhaltsbezogen so alles von sich gab… und suchte ich zusätzlich, da ich schon damals gerne immer mal über missliebige, nervige, mich nicht mögende Mitschülerinnen, Mitschüler und Lehrer bitterböse lästerte und sarkastisch schimpfte, eine sprachliche Ausdrucksform, die mir zwar alle nur erdenklichen Schimpforgien problemlos zu ermöglichen in der Lage war, von den angesprochenen PersonInnen aber niemals so recht verstanden wurde. Um beide Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, kaufte ich mir in den damaligen Herbstferien, am 17. Oktober 1984, vormittags, in einem teuren Tourismus-Nepp-Laden am (seinerzeit noch sorglos betretbaren) Kölner Domplatz das Buch „Kölsch vun A bess Z“ und plante nun, sorgsam und penibel, Wort für Wort, Kölsch zo liehre. Was bot sich hierfür besseres an, als der ultralangweilige Lateinunterricht bei Frau Dr. Saenger, die unserer Klasse das gesamte neunte Schuljahr, 1984/85, über, als Lehrerin in ebenjenem, mir per se äußerst sympathischen (nur eben von Frau Dr. S. extrem einschläfernd, öde und destruktiv dargebotenen) Schulfach zugeteilt worden war. So nutzte ich die dunkel-mystischen Wochen und Monate von Ende Oktober 1984 bis in den Januar des Folgejahres hinein – in der Hoffnung, hierbei von Frau Dr. Saenger unbemerkt zu bleiben – Lateinstunde für Lateinstunde nicht etwa dazu, Latein zu lernen, sondern mich vielmehr dem intensiven Studium des Kölschen Verzäll hinzugeben. Doch Anfang Februar 1985 erwischte mich die nervtötende Lehrerin und kassierte mein „Kölsch vun A bess Z“-Lexikon bis auf weiteres ein. Erst zu Beginn der Frühjahrsferien, am 01. März 1985, erhielt ich das Buch zurück. Doch ich war längst schon des Kölschen Verzäll mächtig geworden – und bess hück, etwa, wenn ich mir gleich morgens nach dem Aufstehen zum Wachwerden eine LP von „BAP“ (aber, der Gerechtigkeit halber, auch etwa eine solche von Jürgen Zeltinger, Gerd Köster, den frühen „Brings“ und anderen Artverwandten) auflege, verfalle ich umgehend in den legendären Südstadt-Dialekt und werde ihn den ganzen Tag niemieh loss – und das, obwohl ich in meinem Leben, wenn es hochkommt, überhaupt nur sechs oder acht Mal in der Domstadt jewese benn.

Und genauso haben sicherlich viele, viele andere Menschen, die „lebenslänglich“ von „BAP“ und ihren Liedern begleitet wurden und werden, ihre eigenen, spezifischen, lustigen, seltsamen, aber garantiert stets unterhaltsamen Geschichtchen rund um Herrn Niedecken, seine Combo und seine gesungenen Träume – wie hieß es so schön auf „Radio Pandora“: „Songs sinn Dräume“ – durchlebt, durchlacht und durchlitten. Und auf vorliegender Silberscheibe „Lebenslänglich“ reflektiert Wolfgang Niedecken, lyrisch und musikalisch auf gewohntem Bestniveau, manch derjenigen, von ihm selbst erlebten Geschichten, die irgendwann dazu geführt haben, dass er daraus für seine Band „BAP“ neue, tönende Geschichten kreierte – und durch dieses Tun Massen an Rockfans in seinen Bann zog.

„LEBENSLÄNGLICH“ ist eine so kompakte, wie komplexe, so ineinander verwobene, wie von jedem Interessierten jederzeit nachvollziehbare und zudem regelmäßig außerordentlich faszinierende Reise durch 40 Jahre „BAP“, die enormen Appetit macht auf die nun bald anstehende Tournee, vor Beginn derer die Fans per Internetbefragung entscheiden können, welche fünf Titel aus der aktuellen Produktion ins Liveprogramm intergiert werden sollen, das ansonsten, wie Wolfgang Niedecken gegenüber der Presse deklamierte, fast nur aus denjenigen Dauerbrennern bestehen soll, die von jeher als Konzertfavoriten gelten. Ich hoffe, in Bälde einen schönen Konzertbericht aus meiner Feder an dieser Stelle veröffentlichen zu können!

Holger Stürenburg, 25. bis 29. Januar 2016

http://www.bap.de/start/

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