EXTRABREIT
Konzertbericht von Holger Stürenburg: Extrabreit – 23.12.2016 – Zeche, Bochum!
Eindrücke von der Weihnachts-Blitztournee der “Breiten” anno 2016!
Es gilt inzwischen als liebgewonnene Tradition, dass sich die einstmals aus Hagen stammende Deutschpunk-Formation „EXTRABREIT“ alljährlich in den Tagen vor und nach dem Christfest auf eine kleine, aber feine „Weihnachts-Blitztournee“ begibt. Früher waren wir oft in Hamburg im „LOGO“, später in der „Markthalle“ bei Konzerten dieser entsprechenden Tour.
Nun lebe ich im ‚Pott‘ – folglich begab ich mich am 23.12.2016 in die legendäre „Zeche“ nach Bochum-Wiemelhausen und feierte dort, gemeinsam mit ca. 800 anderen Fans, darunter überwiegend Kinder der 80er Jahre, die nicht selten ihren Nachwuchs mitgebracht hatten, eine rund zweistündige Punk’n’Roll-Party in bester und authentischster Manier, inkl. phonstarken Mitschmetterns und sogar ein paar wild herumspringender Pogo-Tänzer.
„Extrabreit“ wurden ja seinerzeit, 1981/82, m.E. vollkommen fälschlicherweise, der in jenen Tagen hochgradig florierenden Neuen Deutschen Welle (NDW) zugerechnet. Deshalb zu Unrecht, weil es die Truppe um Sänger Kai Hawaii und Ursprungs-Gitarrist Stefan Kleinkrieg zum einen bereits seit 1978 gab und eben Kai, der für die meisten Songs lyrisch verantwortlich zeichnet, in seinen bilderreichen Reimen stets eine gewisse, sehr schmale verbale Gratwanderung betrieb: „Extrabreit“ waren fraglos dem Zeitgeist der 80er Jahre zuzurechnen, karikierten, parodierten, überspitzten diesen jedoch regelmäßig mit einer ganz, ganz feinen anarchischen Ironie, um diese zu erkennen und ihre Intention zu verspüren der geneigte Hörer häufig zwischen die Zeilen schauen musste und muss. In Sachen Wortlaut und Konzipierung sind die Lieddichtungen von „Extrabreit“ einfach nur als genial, teils grell, mutwillig übersteigert und zuspitzend zu bezeichnen, musikalisch findet das Ganze von jeher zwischen kunterbuntem Rock, originärem 77er-Punk, einwenig Reggae-Einflüssen und einfach nur schnellen, harten Rhythmen statt, die sich jederzeit als zum Mitsingen geeignet erweisen.
Nach der berühmten ‚akademischen Viertelstunde‘, ergo um 20.15 Uhr (also fünf Minuten später, als Howard Carpendale sonst loslegt), erklomm das junggebliebene Quintett die Bühne der Bochumer „Zeche“ und startete mit ihrem radikalen Erkennungshymnus „Extrabreit“ (aus der LP „Ihre größten Erfolge“, 1980).
Nur wenige Tage, nachdem Helmut Kohl per konstruktiven Misstrauensvotums zum neuen Bundeskanzler gewählt worden war, sandten „Extrabreit“ ihre Single „Her mit den Abenteuern“ (aus der LP „Rückkehr der phantastischen Fünf“) in die deutschen „Media Control“-Charts. Im Nachhinein wirkt dieser rasante, bissige Punkrocker wie eine Art ungewollter „Soundtrack“ zur ‚geistig-moralischen Wende‘, der aber – ob man nun die CDU und Kohl mochte oder nicht – durchaus historisch Relevantes in sich trug und im übertragenen Sinne tatsächlich für den politischen Gezeitenwechsel stand bzw. diesen vorab auf die Schippe nahm.
Gleiches gilt – obwohl schon 1981 für die bahnbrechende LP „Welch ein Land – Was für Männer“ entstanden – für den zutiefst sarkastischen Hardrock-Aufschrei „Wir brauchen GLÜCK & GELD“, der direkt nach „Geisterbahn fahr‘n“ (1982) zum Zuge kam.
Nun zelebrierten „Extrabreit“ ihre wilden Analysen der „Kleptomanie“ (1982), huldigten – verbunden mit einem langen, Reggae-angehauchten Gitarrensolo – den „Polizisten“ (1981) und daran anschließend allen „Superhelden“ (1982) dieser Welt.
Aus der letzten, weiterhin aktuellen „Extrabreit“-Doppel-LP (jaaaa, die habe ich auf Vinyl – juhu!!!) „Neues von Hiob“, hatte die überaus gewagte, beinahe zynische „Nachkriegs-Halbballade“ (Zitat: Kai H., 2009) „Besatzungskind“ den verdienten Weg ins Konzertrepertoire der diesjährigen „Weihnachts-Blitztournee“ von „Extrabreit“ gefunden. Gerade dieses Lied legt deutlich an den Tag, dass sich die Band in vielen ihrer Liedbeitrage nachhaltig und intensiv die Zeitgeschichte vorknöpft, sicherlich zumeist selbstverständlich im übersteigert ironischen Kontext – aber, es muss in diesem Zusammenhange gesagt sein, dass sich viele nachgewachsene Bands, bevor sie überhaupt anfangen, deutsche, ggf. anpolitisierte Texte zu schreiben, zu singen, wohl erst mal mit der noch so kruden Historie 1945ff beschäftigen sollten, damit wahrhaftig inhaltliche Meisterstücke mit Substanz an die Oberfläche geraten können.
Nach der grandiosen Bluesballade „Der letzte Schliff“ (aus der 1991-CD „Wer Böses denkt, soll endlich schweigen“), verließ Frontmann Kai vorerst die Bühne und übergab sein Mikrophon Gitarrist Stefan Kleinkrieg. Dieser interpretierte nun den harschen Riff-Rocker „Das Beste kommt zuletzt“, eine an „Beast of Burden“ von den „Rolling Stones“ gemahnende Solonummer aus 2011, sowie die rasende 1982er-Ode „Liebling“. Die musikalisch brodelnde Auseinandersetzung mit dem Attentat auf den einstigen US-Präsidenten Ronald Reagan am 30. März 1981, „Der Präsident ist tot“ (aus „Welch ein Land – Was für Männer“), und der ähnliche dunkel-morbide Großstadtexzess „110“ (1980), leiteten über zu einem meiner persönlichen Allzeit-Favoriten der „Breiten“, den – sozusagen Talking-Punk – (also = ein Talking-Blues auf Punkbasis), „Russisch Roulette“, der besonders durch seinen wohlformulierten, witzig-skurrilen Text betört und einfach nur so zum Mitgrölen animiert (wenn man denn die vielschichtigen, ausgiebigen Reime auswendig beherrscht, derer ich zum Glück seit über 20 Jahren mächtig bin!).
Das nachdenklich-fordernde 1968er-Chanson „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ hatten „Extrabreit“ 1993 im Duett mit der Originalinterpretin Hildegard Knef aufgenommen; drei Jahre später folgte eine gemeinsame Arbeit mit Schauspiellegende Harald Juhnke namens „Nichts ist für immer“, die beide nun – selbstredend ohne die verstorbenen Duettpartner – zum umjubelten Einsatz kamen.
Aus der, wie beschrieben textlich schier brillanten 1991er-Scheibe „Wer Böses denkt, soll endlich schweigen“, ertönte nun die ätzende Hommage an das Leben und Sterben eines hypertrophen Kurzzeitidols, das radikal aufstieg und genauso brutal wieder fiel, „Joachim muss härter werden“; thematisch ähnlich angesiedelt, wenn auch noch nicht so ganz bravourös, wortreich und stichhaltig betextet, zeigte sich der ultraschnelle „Lottokönig“ (1980).
Am 14. April 1980 wurde Kai Hawaii 23 Jahre alt. Aus diesem Anlass schenkte er sich in gewisser Hinsicht zu seinem Ehrentag die allererste „Extrabreit“-Single „Hart wie Marmelade“, auf deren Darbietung die brachiale Auslegung des Hans-Albers-Standards „Flieger, grüß mir die Sonne“ folgte – bis heute geläufig als DER Band-Gassenhauer überhaupt, der auch am vergangenen Freitag von Hunderten von Kehlen in der „Zeche“/Bochum lauthals mitgesungen wurde.
„Extrabreit“ sagten daraufhin der Bühne vorerst Lebewohl, befanden sich aber innerhalb weniger Sekunden wiederum auf derselben. Die vielleicht wichtigste Hymne unserer damaligen Teenagergeneration, so um 1981/82 herum, hieß „Hurra, Hurra die Schule brennt“ (1980) und stellte die erste Zugabe an jenem zwar kühlen, aber darüber hinaus nicht unfreundlichen Winterabend dar. Ich erinnere mich sehr klar, dass ich, nachdem ich im August 1982 auf das recht entfernt von unserem Wohnstadtteil gelegene Jenisch-Gymnasium gekommen war, weshalb mich, damals elfjährig, meine Mutter die ersten Monate hindurch mit dem Auto zur Schule fuhr, jeden Tag in unserem Audi 80 meinte – sehr zur Freude meiner Frau Mama… – ebenjenen „Extrabreit“-Gossenhauer per Excellance mit voller Stimme plärren zu müssen. Dieser wurde zudem als realer Kulthit in unserer siebten Klasse eingestuft und wir konnten uns (zum Glück ist nur Sachschaden entstanden!) eines kleinen ‚fiesen‘ Lächelns nicht enthalten, als wir am 17.12.1984, dann in der Neunten, in unserem Klassenraum saßen und plötzlich vernahmen, wie drei Löschfahrzeuge mit Blaulicht und Tatütata auf den Schulhof vorfuhren und wir gleichzeitig rochen, dass es im Nebengebäude tatsächlich brannte ;- ) (Anm.: Dieser Feuerausbruch beruhte auf einem technischen Defekt und es kam niemand dabei zu schaden, außer eines Dachraums des „Hermanneums“).
Auf den Harmonien von Lou Reed’s düster-urbanem Welterfolg „Take a Walk on the Wild Side“ beruhte das ironische Verliererdrama „Junge, wir können so heiß sein“ (1980), welches um 22.00 Uhr den ersten Zugabenteil beendete. Das ultimative Liebesgeständnis gegenüber der bierblonden S/M-Lady „Annemarie“, die Verhohnepiepelung des 1981/82 die Gazetten beherrschende TV-Hypes um einen Fernsehgenuss in „3D“ (1981), der und dessen dafür notwendige Brillen (eine davon war der 1981er-LP „Welch ein Land…“ beigefügt), sich niemals so recht durchgesetzt haben und heute wohl in die Schublade „Peinlichkeiten der 80er“ fallen, sowie der krasse Punkrock „Sturzflug“ (1980), bot der zweite und letzte Teil des Zugabenparts an.
Ca. 22.10 Uhr – also nach fast 120 Minuten faszinierender Zeitreise in die coole Dekade – ging es wieder zurück ins Hier & Jetzt. Auch, wenn diesmal nur ein Titel aus der immer noch aktuellen LP/CD „Neus von Hiob“ vorkam und zugleich die beißend-bittere Analyse über schnieke, weibliche Teeniestars, „Ruhm“ (1984) nicht aufgeführt wurde, hat das Bochumer Konzert von „Extrabreit“ erneut bewiesen, dass es sich immer wieder außerordentlich lohnt, mit Kai, Stefan und den anderen „Breiten“ in die Tiefen und Untiefen der 80er Jahre genüsslich einzutauchen. Die Lieder wirken niemals anachronistisch, nicht wenige sind heutzutage aktueller denn je – allerdings bedeutete es gewiss ein profundes Vorhaben, begäben sich „Extrabreit“, immerhin acht Jahre nach „Neues von Hiob“, mal wieder ins Studio und legten sie ganz frische, tönende Statements über oder gar gegen Geist und Ungeist der vergangenen paar Jahre vor, die ja nun beileibe eine ganze Menge an karikierungswürdigem Material vorzuweisen haben. Vielleicht schrieben die sprichwörtlichen ‚phantastischen Fünf‘ damit abermals musikalische Historie!
Auch 2017 werden „Extrabreit“ viele, viele Konzerte in der BR Deutschland absolvieren. Termine (laufend aktualisiert) findet man hier: http://www.die-breiten.de!
Foto-Credit: Anna Maria Erkeling
Holger Stürenburg, 23./24.Dezember 2016
http://www.die-breiten.de/