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hr4-Musikchef Gerhard Schilling – Schlager: "Stimulanzmittel gegen Depressionen"!

Gerhard Schilling erklärt die ´Faszination ´Schlager´ in einem faszinierenden Interview…: 

Die Musikbranche steckt ein wenig in der Krise. Nur der Markt für den Schlager wächst und wächst. Schlager ist angesagt wie nie zuvor. hr4-Musikchef Gerhard Schilling über die Faszination von Schlager.

Kein anderer Künstler hat sich in den vergangenen zehn Jahren länger in den deutschen Album-Charts gehalten als Andrea Berg: 701 Wochen lang waren ihre Platten in den Top 100. Dahinter folgt Helene Fischer mit 533 Wochen – und erst danach Robbie Williams, der es auf 463 Wochen schaffte. Oft totgesagt, ist der Schlager so munter wie noch nie und erfreut sich der Beliebtheit aller Altersgruppen. Wie kann man die Faszination "Schlager" erklären. Einer, der es wissen muss, ist unser Musikchef Dr. Gerhard Schilling.

 

Was ist das Faszinierende am deutschen Schlager?

hr4-Musikchef Dr. Gerhard Schilling: Das ist relativ einfach zu beantworten, denn egal, wie wir musikalisch sozialisiert worden sind, mit dem Schlager hatten wir alle schon einmal irgendwie Kontakt. Und dieser Kontakt – das behaupte ich einfach mal – war gewiss nicht negativ gewesen. Ob bei Partys im Bierzelt oder Discos, in Konzerten oder vielleicht sogar im stillen Kämmerlein – Schlagermusik wirkt immer als Gute-Laune-Faktor und ist durchaus vergleichbar mit einem Stimulanzmittel gegen Depressionen, also als eine Art Muntermacher oder Aufheller. Schlager regt an und nicht auf, er versetzt uns durchaus in eine "Traumwelt" und lässt uns den oftmals stressigen Alltag für einen Moment vergessen. Emotionalität ist hier das große Stichwort.
 
Können Sie das näher erklären?

Wir sind uns doch einig, dass Herzrasen, hoher Puls und Schweißabsonderung immer Anzeichen dafür sind, dass der Körper auf Unwohlsein reagiert. Studien, die ich begleitet habe, haben gezeigt, dass Wagner-Opern, Heavy Metal- oder Techno-Stücke oder auch manche Titel aus der Popmusik eben genau diese Reaktionen bei Testpersonen hervorgerufen haben, denen diese Musikgenres vorgespielt wurden – egal, mit welcher Musik die Probanden angaben, sozialisiert worden zu sein und egal welche Musik sie am liebsten momentan hörten. Wurde ihnen nun Schlager- und Instrumentalmusik (Easy Listening-Bereich) vorgespielt, blieb der Puls ruhig, kein Schweiß in den Handinnenflächen und auch kein Herzrasen. Die, die mit Opern-, Pop- und Rock-Musik oder auch Techno aufgewachsen sind oder diese Genres im Moment als ihre Lieblingsmusik bezeichneten, sagten alle übereinstimmend: "… wir hätten uns einen deutschen Schlager wohl nie angehört, aber wir haben uns bei allen Hörbeispielen nicht unwohl gefühlt."

Untermauert werden diese Aussagen zusätzlich durch Berichte über plötzliche Todesfälle durch Herzrhythmusstörungen bei Techno-Partys und Rockkonzerten. Es ist schlussendlich auch bezeichnend, dass bei Heavy Metal- und Technomusik selbst Pflanzen weniger gut wachsen oder sogar eingehen, wenn sie damit ständig beschallt werden. Bei Schlagermusik ist dies genau umgekehrt. Und das sagt doch alles.

Warum sind Schlager so erfolgreich?

Der deutsche Schlager unterscheidet sich zunächst einmal von den anderen Musikrichtungen oberflächlich betrachtet nur mehr in der Sprache. Und jetzt muss ich mal etwas geschichtlich werden, denn auch historisch ist belegt: Schlager ist in gewisser Weise die Mutter der deutschen Populärmusik. Der Name "Schlager" selbst kommt wiederum aus der Wirtschaftssprache und stand für ein Produkt, das so richtig "eingeschlagen" hat. Heute würde man dies als Bestseller, Kassenerfolg oder Renner bezeichnen. Das erste Stück, das von der Presse als "Schlager" bezeichnet wurde, war- es ist kaum zu glauben – der Walzer "An der schönen blauen Donau" von Johann Strauß aus dem Jahr 1867. Schlager war also: alles! Klassische Musik, Elvis Presley, die Beatles. Ja sogar Jethro Tull und die Rolling Stones fielen unter diese Rubrik.

Ob nun Helene Fischer, Andrea Berg oder Roland Kaiser: Schlagermusik ist eingängig, hat einfache musikalische Strukturen, einen tanzbaren Rhythmus und zeichnet sich durch eine wenig komplexe Harmonik aus. Über die textliche Ebene wird zudem sehr stark das Gefühl- und Harmonieverlangen der Rezipienten angesprochen. Addiert man nun all diese Komponenten, so bleibt unter dem Strich ein Produkt, das nicht oder wenig anstrengend daherkommt, eine Art Nestwärme und Geborgenheit schafft und dadurch in der Wirkung als beruhigend und entspannend bezeichnet werden kann. Man hat letztlich einfach das Gefühl der Vertrautheit, denn ob Text oder Musik – man glaubt einfach schon mal alles irgendwie gehört zu haben. Es sind kurzum stets die einfachsten Ideen, die zünden und somit den ganz großen Erfolg bringen. Man muss sie nur haben und das immer und immer wieder. Aber das ist genau die Schwierigkeit.

Welche Rolle spielt dabei der Interpret selbst?

Der Interpret ist letztlich der, der das Produkt "verkaufen" muss und somit muss er ebenfalls dem Zeitgeist Rechnung tragen. Das fängt beim Aussehen an, geht weiter über das Outfit und hört beim Namen auf. Der Künstlername beispielsweise muss "aus der Lippe fallen". Da geht nichts mit Koslowsky, Bittermann oder Müller-Kasuppke. Nein, einfach und klangvoll muss er sein. Doppelnamen sind ein absolutes Tabu und gehen gar nicht. Jedoch ein Schuss Internationalität darf dann durchaus auch schon mal dabei sein. Das hat dann so ein wenig etwas von Fernweh, Weltoffenheit und Kosmopolität. Aber auch hier darf es nicht zu kompliziert werden. Ein Accent aigu über dem "a" oder dem "e" wirkt da oft schon Wunder.
 
Kann man mit einem modernen Schlager-Radio auch junge Leute begeistern?

In den unterschiedlichsten und durchaus verrücktesten Locations veranstalten junge Leute immer mehr Schlager-Partys. hr4 kann auch diese jüngeren Hörer begeistern. Nehmen wir mal den aktuellen Superhit "Atemlos" von Helene Fischer, der mit verschiedenen Remixen, darunter auch diverse Versionen im House-Stil, aufwartet. Durch diese Variante, Titel in unterschiedlichen Soundanmutungen zu produzieren, bekommen Künstler immer mehr die Möglichkeit das eigene Publikum zu erweitern und das sind eben zunehmend auch die jüngeren Zielgruppen. Alte Klassiker bekommen so einen neuen "Anstrich" und aktuelle Hits erhalten eine weitere Möglichkeit der Darstellung, um das Publikum zu erreichen, das die jeweilige Musikrichtung bevorzugt. Ich möchte sagen, dass hier Synergie-Effekte erzielt werden, die den musikalischen Spagat zwischen älteren und jüngeren Konsumenten vollziehen.
 
Wie würden Sie Ihre Zielgruppe strukturieren?

Unsere Zielgruppe in Alterssegmente einzuteilen, möchte ich nicht machen. Natürlich ist die hr4-Gemeinde aufgrund ihrer Genese der älteren Generation zuzurechnen. Doch beobachten wir – auch Dank der neuen Wilden wie Helene Fischer, Andrea Berg, Andreas Gabalier usw. – eine steigende Fangemeinde an jungen Hörern. Schlager kann und darf mittlerweile rocken und verrucht sein. Und nehmen wir auch einmal den mittlerweile leider verstorbenen Udo Jürgens als Beispiel -– auch er hatte sich über "Merci Cherie" und "17 Jahr', blondes Haar" musikalisch unglaublich weiterentwickelt. Ich würde da fast schon von mehreren Quantensprüngen sprechen. Seine Songs waren immer mehr gekennzeichnet von den unterschiedlichsten Musikrichtungen, selbst manchmal innerhalb eines Titels. Am Ende kamen dann völlig neue Kombinationen heraus, die bei einem breiten Publikum für eine unglaubliche Begeisterung sorgten. Ein Udo Jürgens-Konzert oder ein Konzert von James Last und seinem Orchester, war und ist immer auch ein Treffen der Generationen. Und das ist auch gut so.
 
Warum gibt es aber Schlager, die erfolgreicher sind als andere?

Das ist ganz schwer zu sagen. Hits am Fließband und das vielleicht nur aus einer Feder – das gibt es so gut wie kaum. Und das untermauert diese Aussage von mir. Ein Superhit ist einfach nicht planbar und auch nicht konstruierbar. Wir sprechen immer noch von Emotionalität und nicht von mathematischen Formeln.

Beispiel: Kristina Bach schreibt schon seit vielen Jahren Schlager. Der ganz große Wurf ist ihr jedoch erst kürzlich mit Helene Fischers "Atemlos" geglückt. Gerechnet hat sie damit selbst nicht. Zumindest nicht in dieser Dimension.

Man kann jedoch vielleicht eines sagen: Möglicherweise spricht der erfolgreichere Schlager einen Tick mehr die Gefühle und den momentanen Zeitgeist an, ist eine Spur wiedererkennbarer, aber trotzdem einzigartig.
 
Abschließend noch die Frage: Wie sieht die Zukunft von hr4 aus?

Ein kluger Kopf hat einmal gesagt, dass Vorhersagen immer dann besonders schwierig sind, wenn sie die Zukunft betreffen. Das kann ich nur unterstreichen.

Aber ernsthaft: Ich glaube, dass ein deutschsprachiges Musikprogramm wie hr4 auf jeden Fall sehr gute Perspektiven für die Zukunft hat, wenn man die immer wieder neuen Strömungen und Bedürfnisse der Konsumenten rechtzeitig erkennt. Wie immer das auch in einigen Jahren soundmäßig aussehen mag. Tatsache ist doch, dass unser Denken, Reden und sogar Träumen immer noch im Deutschen abläuft und das sind doch die besten Voraussetzungen.

hr4 (Textvorlage)
http://www.hr-online.de/website/radio/hr4/
http://www.hr-online.de/website/radio/hr4/index.jsp?rubrik=11806&key=standard_document_7622498

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