“EURIVISION SONG CONTEST”
“Eurovision Song Contest 2022” – eine Bestandsaufnahme und Prognose von Frank Ehrlacher!

Der ultimative Chart Show Experte wagt – smago! top-exklusiv – einen Ausblick auf heute Abend (14.05.2022) …:

 

Sonntagmorgen, 0:50 Uhr, kurz nach Ende des ESC. Peter Urban meldet sich noch einmal live aus dem Pala Olympico in Turin. „Wir sind alle ganz sprachlos hier und verstehen das nicht. Malik Harris kam hier super an und hat sich überall sehr sympathisch präsentiert. Alles waren voll des Lobes und wir haben fest mit einer viel besseren Platzierung gerechnet. Wir finden, er hat seine Sache super gemacht und der Song war auch gut. Uns fehlen die Worte. Wir können uns das alle gar nicht erklären.“

So wird es kommen – so oder ähnlich und ziemlich sicher. Und manche werden denken, fast dieselben Worte haben wir doch in den vergangenen Jahren bei Jendrik, den Sisters, Levina, Ann Sophie oder Jamie Lee gehört? Richtig. Nach 2014 ist Deutschland mit einer Ausnahme (Michael Schulte in Lissabon) immer auf dem letzten oder vorletzten Platz gelandet. Zufall?

Sicher nicht! Man muss den ESC verstehen, um ihn zu lieben – man muss ihn aber auch lieben, um ihn zu verstehen. Beides fällt dem für Deutschland zuständigen NDR seit Jahren schwer – und will ihm einfach nicht gelingen. Hier steht der Event-Charakter, der Hype für diesen einen Abend und die Effekthascherei (inklusive Einschaltquote und auch jemandem beim Scheitern zuzusehen, bringt erfahrungsgemäß Quote, siehe die Casting-Shows der Bohlen-Ära ) mehr im Mittelpunkt als eine tiefgehende Beschäftigung mit dem Wettbewerb. Dies ist leider hier in Turin symptomatisch für den Contest an sich – der ESC steht am Scheidepunkt, Gigantomanie scheint die Seele des Wettbewerbs aufzufressen und die Lieblosigkeit an vielen Orten zu überdecken.

Das ist schade, gerade in einem Jahr, in dem sich viele Länder wieder auf ihre musikalischen Wurzeln besinnen. Gleich 12 verschiedene Sprachen sind heute Abend im Finale bei 25 Beiträgen vertreten – eine solche Vielfalt gab es seit der Abschaffung der Pflicht, in Landessprache zu singen im Jahr 1999, wohl nicht mehr. (Deutsch ist übrigens nicht unter den 12 vertretenen Sprachen, französisch interessanterweise auch nicht). Da besingt die Portugiesin Maro auf Portugiesisch die landestypische Sehnsucht „Saudade“, S10 aus den Niederlanden präsentiert mit „De diepte“ ein melancholisches Chanson, das wirkt wie aus den späten 1960er Jahren gefallen und wohl in einer anderen Sprache als niederländisch auch nur schwer funktionieren könnte, Frankreich besinnt sich auf eine Tradition, die der Grande Nation in den frühen 1990er Jahren große Erfolge brachte, nämlich in anderen Sprachen des Multi-Nationen-Staates zu singen als französisch – diesmal ist es bretonisch. Die Isländer präsentieren einen Country-Song im isländischen Style – und die Vertreter der Republik Moldau besingen eine Eisenbahnfahrt von Chisinau nach Bukarest natürlich in Rumänisch.

Der Wettbewerb findet zurück zu dem, was er eigentlich war und sein soll – nämlich ein Austausch von Musik und Musikern verschiedener Kulturen. Jeder versucht, aus seiner Musikkultur mit Stolz das beste mitzubringen und damit die anderen Nationen zu überzeugen oder zumindest zu inspirieren. (Und am Rande: In Deutschland ist der Schlager fest in unserer Musikkultur verankert und war beim ESC meist deutlich erfolgreicher als Anbiederung an internationale Pop-Rhythmen). Auch der Zuschauer mag offensichtlich das eigenständige: Gängige radiotaugliche Pop-Songs wie die aus Österreich, Dänemark oder Malta, sind allesamt bereits im Halbfinale aussortiert worden.

Im krassen Gegensatz zu dieser Rückbesinnung auf die Wurzeln steht die Gigantomanie der EBU. Dieses Jahr hat man mit der chinesischen Social Media-Plattform TikTok einen offensichtlich lukrativen Partner ins Boot geholt, der die 3-Minuten-Pop-Songs noch auf die Click-und-Wish 15-Sekunden-Version reduzieren kann.   

Im Gegensatz dazu ist das Pressecenter meist menschenleer. Nur noch 500 Journalisten weltweit wurden zuglassen – gerüchteweise knapp übe 20 aus Deutschland. Da wundert es dann nicht, wenn nur noch die Big Player vor Ort sein dürfen – auch smago war eigentlich „unerwünscht“, konnte aber aufgrund unseres ausgezeichneten Netzwerks und kooperativer Kollegen, die diesen Namen verdienen, dennoch berichten – und sich die Berichterstattung auf 2, 3 Favoriten konzentriert. Wen interessiert auch schon der musikalische Hintergrund der Vertreterin aus Armenien, wenn man ohnehin maximal 1:30 für einen bunten Beitrag über den ESC zur Verfügung hat? Und auch die Fans, die noch vor wenigen Jahren von der EBU als das Rückgrat des Song Contests bezeichnet wurden, mussten in punkto Berichterstattung für ihre meist toll und liebevoll gemachten Zeitschriften und Blogs draußen bleiben. Gerade die waren es aber, die sich auch immer für die vermeintlich chancenlosen aus und musikalisch nicht so vertrauten Ländern interessierten. Egal – the winner takes it all.

Immerhin gab es ein Online-Presse-Zentrum, in dem man Proben verfolgen und Interviews führen konnte – zu diesem wurden aber auch nur 1.000 weitere Journalisten zugelassen. In einer Zeit, in der Millionen gleichzeitig ein Champions-League-Spiel streamen, ein Witz, denn auch hier gab es in Deutschland mehr Ablehnungen als Zusagen. Bei der EBJU druckst man herum und argumentiert, es wären im Vorjahr Probenauftritte illegal ins Netz gestreamt worden – wenn man sieht, wie groß ein „PROHIBITED“-Schild auf der Übertragung prangt, schwer zu glauben. Und selbst wenn, wer interessiert sich schon wirklich für die 4. Von 6. Proben Nordmazedoniens – und im Gegenteil: Ist das nicht gerade der Sinn des ESC, darüber zu berichten (natürlich nicht mit illegalen Streams, aber Missbrauch kann nicht das Argument gegen eine gute Berichterstattung sein).

Und so ist hier in Turin nicht ganz klar, wohin der Wettbewerb eigentlich will – und auch der EBU lässt sich da wenig Zukunftsweisendes entlocken. „Man werde darüber nachdenken“.

Noch einmal zurück zum deutschen Beitrag von und mit Malik Harris. In Deutschland war – auch unter Fans – die Freude groß, als man beim NDR erklärte, man habe aus den Vorjahren gelernt und werde sich in diesem Jahr nicht mehr au den eigenen Musikgeschmack verlassen und intern oder mit einem Algorithmus auswählen, sondern wieder eine Vorentscheidung veranstalten. Die Ernüchterung folgte kurz darauf, als man bekannt gab, wer nach welchen Kriterien die Beiträge aussucht: Rundfunkredakteure nach dem Kriterium der Radiotauglichkeit!

Man muss sich dabei vor Augen führen, was Radiotauglichkeit heißt: Im Radio soll ein Song möglichst „nicht weh tun“ und die Auflockerung zwischen den auch immer kürzer werdenden Wortbeiträgen bilden. In der Regel weiß ich nach ein paar Minuten schon nicht mehr, welchen Song von Martin Schulz, Robin Jaehn oder Felix Garrix ich da gehört habe, geschweige denn, mit welchem Gastsänger… Und genau das ist ein KO-Kriterium für einen erfolgversprechenden ESC-Beitrag. Denn hier hört der Zuschauer innerhalb von anderthalb Stunden 25 Songs – und wenn er sich an den „eigenen“ Beitrag nachher kaum noch erinnert, wird er auch nicht dafür anrufen.

Und somit hat Peter Urban mit seinen prophezeiten Eingangs-und-Abschluss-Worten Recht: Malik Harris ist ein toller Musiker, präsentiert sich hier super sympathisch, kommt überall gut an, hat auch einen netten Song – aber nichts, was jetzt unter den 24 Konkurrenten hervorsticht. Man wollte mit der Inszenierung „Club-Atmosphäre“ vermitteln – auf mich wirkt es eher, als wenn der Hausmeister nach einem Konzertabend durch den verrauchten Club geht, die noch nicht abgebauten Instrumente sieht und auf jedem ein bisschen rumspielt und dann dazu singt – und vielleicht so in der virtuellen 3. Runde des DSDS-Auswahlverfahrens das Ticket für den Re-Call bekommt, weil er ja ein netter Typ ist. Ein Superstar ist er damit aber noch lange nicht.

Solange der NDR das nicht begreift, wird es mit deutschen Erfolgen beim ESC mehr als schwer werden.

Solang aber auch die EBU nicht begreift oder nicht (mehr) wahrhaben will, wie der Contest funktioniert, wird auch der ESC es insgesamt schwer haben, langfristig zu überleben.

Zugegeben, dieses Jahr kommt eine Hürde dazu:

Der ESC wollte immer unpolitisch sein – das ist schwierig, wenn wie in diesem Jahr ein Vertreter aus der kriegsgeschüttelten Ukraine dabei ist, der einen Song präsentiert, der in anderen Jahren vielleicht gerade so in die Top Ten rutschen würde, jetzt aber haushoher Favorit ist, weil er aus der Ukraine kommt. Das klingt zunächst sympathisch, dann wieder dämlich, da es doch auf die Musik ankommt und nicht auf das Herkunftsland. Aber: Musik hat immer mit Emotionen zu tun. Und Sympathie weckt Emotionen – ob nun zu einem Künstler oder in dem Fall zu einem Land oder dessen Rolle in der Weltgemeinschaft. Die wenigsten werden „Stefania“ vom Kalush Orchestra absichtlich wählen, um es „Herrn Putin zu zeigen“. Bei vielen wird es aber Emotionen wecken: Wie bei den zwei mutmaßlich ukrainischen Flüchtlingskindern, die im 1. Semi-Finale während des ukrainischen Auftritts vor mir tanzten und lauthals in Landessprache mitsangen und für die es das Größte war, dass ihre Landsleute es mit einer Ausnahmegenehmigung von Präsident Selenskyj nach Turin geschafft haben – sofort am Sonntag müssen die Musiker übrigens zurück in ihre Heimat, da sie Männer im wehrpflichtigen Alter sind und zum Kampf bereit stehen müssen. Auch das wirkt Emotionen und auch das gehört zu einem Wettbewerb, der seit 66 Jahren Musiker und Menschen aus den meisten Ländern Europas vereint und versammelt.

Mögen es die EBU und der NDR bald verstehen… In jeder Hinsicht.

 

© NDR / EBU
Textquelle: smago! top-exklusiv - Mit verbindlichstem Dank an Frank Ehrlacher

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