PETER SCHILLING
Sein Album "DNA" im Test von Holger Stürenburg!
Und wer könnte die neue CD von Peter Schilling kompetenter besprechen als der Hamburger Musikjournalist…:
Wenn der wissenschaftliche Laie die Abkürzung „DNA“ hört oder liest, denkt dieser vermutlich zunächst an seine Schulzeit und dort an den Biologieunterricht. So etwa in der neunten, zehnten Klasse, im Rahmen des Halbjahresthemas „Humanbiologie“, erzählt der Lehrer im allgemeinen über die „Desoxyribonukleinsäure“, kurz „DNS“, die auf Fachenglisch „Desoxyribonucileic Acid“ heißt und in diesem Falle eben mit „DNA“ abgekürzt wird.
In der „DNA“ findet sich in Form einer sog „Doppelhelix“ die gesamte Erbinformation eines jeden Lebewesens, also dessen Erbgut, d.h. – simpel formuliert – diejenigen genetischen Faktoren, die eben dieses einzigartige Lebewesen ausmachen. Nach diesem, für den Nichtbiologen von jeher in irgendeiner Form stets sehr faszinierenden Phänomen, dass sich in dieser „DNA“ tatsächlich alle Eigenschaften eines Menschen, eines Tieres, einer Pflanze, selbst eines Einzellers, zusammenschließen, hat der ursprünglich aus Stuttgart stammende Sänger, Songschreiber und Buchautor PETER SCHILLING sein soeben veröffentlichtes, neues Studioalbum benannt.
Peter Schilling… das war doch der großgewachsene, brünette junge Mann mit dem ‚völlig losgelösten‘ Raumfahrer „Major Tom“. Derartige Assoziationen dürften nicht wenigen von uns bei der Erwähnung dieses Namens von einer Sekunde auf die andere durch den Kopf schießen. Tatsächlich hatte der heute 58jährige Ende 1982, als einer der letzten, aber zugleich erfolgreichsten Vertreter der kurzzeitigen nationalen Musikrevolution, die unter dem Label „Neue Deutsche Welle“ (NDW) in die Historie einging, mit seiner so unterkühlten, wie hoch melodischen, wehend-atmosphärischen Astronauten-Saga „Major Tom (Völlig losgelöst)“, dessen inhaltlicher Plot übrigens auf David Bowies sagenumwobene 1969er-Hitballade „Space Oddity“ zurückging, nicht nur in unseren Breitengraden, sondern in ganz Europa, sogar in den USA, für enormen Wirbel und unerwartete Resonanz gesorgt.
Hierzulande hielt die surreale Geschichte von „Major Tom“, der auf einer raketenbetriebenen Reise durch das Weltall plötzlich dessen unendliche Weiten spürt, lieben lernt und alle Kontakte zum Heimatplaneten Erde kappt, im Frühjahr 1983, sicherlich bedingt durch das seinerzeit vorherrschende allgemeine Interesse am Futuristischen, an „E.T.“, dem Außerirdischen, verbunden mit der teils hysterisch ausgelebten Angst vor der aufkeimenden Durchtechnisierung und Computerisierung des Alltags, ganze acht Wochen lang den ersten Rang der „Media Control“-Listen besetzt, was sich nur wenig später in Österreich und der Schweiz ebenso radikal einstellte. Auch in Dieter Thomas Hecks Kultsendung „ZDF-Hitparade“ wählten die von einem Meinungsforschungsinstitut ausgesuchten „TED-Mitspieler“ das düster-schwebende Synthesizer-Epos im Januar 1983 auf den ersten Platz. im Laufe des genannten Jahres entwickelte sich das Lied – auf Deutsch intoniert – als wahrhaftiger Chartsstürmer in zig europäischen Ländern, so z.B. in Italien, Spanien, Frankreich oder den Niederlanden. Bald darauf nahm Peter Schilling seinen genialischen Debüthit nochmals als englische Version namens „Coming Home (Major Tom)“ neu auf; kurz nach Veröffentlichung derer erreichte er in den USA anstandslos die Top 20 und in Kanada sogar die Spitzenposition der landeseigenen Hitparaden.
In seinem Heimatland legte der schüchtern-bescheidene Jungstar im Mai 1983 die zackige, so bitter ironische, wie zukunftskritische Songapokalypse „Die Wüste lebt (…Alarmsignale)“ als Nachfolgesingle zu „Major Tom“ vor, die sich, trotz nach und nach abebbender „NDW“, bis auf Rang 7 der deutschen Singlehitparaden hocharbeiten konnte und sich im Juni 1983 wiederum ganz oben auf dem Siegertreppchen der „ZDF-Hitparade“ einfand. Der dazugehörige LP-Einstand „Fehler im System“ konnte nahezu dieselbe ausufernde Begeisterung hervorrufen, wie deren Singleaufhänger, und stieg Anfang 1983 bis auf Rang 4 der „Media Control“-Auswertungen.
Im „Orwell-Jahr“ 1984, als die „NDW“ längst Geschichte war, brachte Peter Schilling das hoch ambitionierte, oft regelrecht drastische, durchwegs von Synthesizern plus härteren E-Gitarren geprägte, zweite Album „120 Grad“ auf den Markt, mitsamt der ebenfalls sehr gefragten Singles „Terra Titanic“ (Sommer 1984), „Hitze der Nacht“ (Spätherbst 1984) und „Region 804“ (Frühjahr 1985). Zwei Jahre später, versuchte der fußballbegeisterte, gelernte Reisekaufmann sich erneut mit zwei hochqualitativen Singleveröffentlichungen ins Gedächtnis der Popfreunde zurückzurufen, die da hießen „Ich vermisse Dich“ – eine Art teutonische Synthirock-Auslegung des US-Hits „Missing you“ von John Waite – und „Alles endet bei Dir“. Doch die Nachfrage nach Peter Schilling hatte im einheimischen Popvolk enorm nachgelassen; eine dazu geplante LP wurde auf Eis gelegt. Es folgte 1989 nochmals ein kleiner Hit in der US-Hitparade („The Different Story (World of Lust and Crime)“), bevor der sensible Künstler am Burn-Out-Syndrom erkrankte und seine Musikkarriere hintanstellte. Peter Schillings – eh nur wenige – Songbeiträge in den 90ern waren kaum der Rede wert. Es handelte sich dabei meist um überaus misslungene, geradezu nervtötende Tekkno-Versuche, sowie in diesem Sinne gehaltene, unnötig bumsende, krachende, ja letztlich zerstörende Remixe seiner legendären 80er-Jahre-Hits.
Erst 2004 legte der heutige Wahl-Münchner gänzlich neue Aufnahmen im Pop/Rock/Wave/Synthi-Modus vor, die sich auch immer wieder keinesfalls vor zeitgemäß, modischen Einflüssen verstecken wollten. Es gab von nun an mehrere Alben von Peter Schilling zu hören, die zumindest bei seinen weiterhin treu zu ihm stehenden Fans, bei 80er-Kindern und anderen Anhängern gehobener deutscher Popmusik, für Furore sorgten – doch der große Wurf, der ultimative Hitaspirant, der sich womöglich mit „Major Tom“ oder „Die Wüste lebt“ hätte messen lassen können, war nicht darunter. Peter Schilling betonte öffentlich, keinesfalls zum allseits grassierenden „NDW-Revival“ gezählt werden zu wollen (obwohl er stets auf kollegiale Zusammenarbeit mit Genre-Vertretern, wie „Frl. Menke“; Markus oder Hubert Kah, wertlegte), sondern man ihn vielmehr als aktuell, zeitnah und zukunftsorientiert verstehen und annehmen möge, was ihm aber in Anbetracht vieler, oft fade aufgewärmter Retrosounds auf seinen Albumversuchen Mitte/Ende der vergangenen Dekade, die häufig nicht besonders kreativ und eigenständig klangen, kaum einer glaubte.
Und nun rotiert plötzlich „DNA“ (Major Ton/Membran/SONY), die soeben erschienene, brandaktuelle CD des einstigen Dauer-„Major Toms“ Peter Schilling im CD-Spieler. Auf dieser befinden sich zehn neue Lieder – und bereits beim ersten Hören derselben stellt der interessierte Rezipient begeistert fest: Dies hat was, dies ist echt, authentisch, ehrlich, durchaus modern und zeitbezogen, ohne jedoch gekünstelt, modegeil oder banal zeitgeisthörig zu klingen, bzw. die „DNA“, das Erbgut aus den frühen 80ern, aus der Ära von Technikängsten, Überindustrialisierung, Raketenfurcht und Orwell’schem Überwachungsstaat, auch nur im kleinsten Takt zu verleugnen.
Mit derjenigen Begleittruppe, die Peter Schilling ca. 2007 erstmals auf der Bühne vorstellte, mit der er seitdem unzählige gefeierte Liveauftritte absolvierte, im Rahmen derer er gerade seinen betagten, liebgewonnenen 80er-Klassikern ein ungewohnt druckvolles, lautes, rockiges Ambiente verlieh (nachzuhören auf der 2011er-Scheibe „Neu & Live“), präsentiert Peter Schilling nun zehn gnadenlose Rock-plus-Synthi-plus-Pop-Klangdramen, die ihre Erbmasse sowohl in NDW-ähnlichem, Synthipop und Computersounds der 80er Jahre begründet sehen, zugleich aber auch im zeitaktuellen Alternative Rock, Gothic und Darkwave des Hier und Jetzt ihre Inspiration gefunden haben. Gemeinsam mit seinen fünf Begleitmusikern Frank Dapper (dr), Uwe Metzler (git), Andreas Recktenwald, Fred Sauer (key) und Benno Richter (b), unter der tonmeisterlichen Regie von Produzent Tom Müller (Nina Hagen, „Rosenstolz“, „Dr. Koch’s Ventilator“), schuf der auch sozial engagierte Botschafter des „Deutschen Kinderschutzbundes“ somit zehn oftmals wahrlich brillant klingende Betrachtungen von Zeit und Geist, wobei Peters von jeher gehegtes Interesse an Science-Fiction, Weltallphantasien, Physik, Biologie, Chemie, allgemein an Naturwissenschaftlichem und natürlich an philosophischen Gedanken aller Art, keinesfalls zu kurz kommt.
Knackig, grell, geradeaus-hymnisch und widerspenstig gleichermaßen, startet „DNA“ mit einer treibenden, hämmernden, lyrisch trefflich zugespitzten Zustandsbeschreibung des Denkens, Fühlens und Seins der Menschheit anno Domini 2014, die den punktgenauen Titel „So ist die Welt“ trägt. Auch das streicherverzierte, rasende, offensiv-deftige (hinsichtlich Aufbau und Umsetzung an die eine oder andere Synthi-Klangkaskade von „Ultravox“ gemahnende) Gitarrenrock-Drama „Wenn sie es wollen“ übt hintergründig Kritik an der heutzutage beinahe schon üblichen Totalüberwachung von allem und jedem von uns, an Datenspeicherungswut und Genetischem Fingerabdruck, auch wenn im Text offenbar der Schriftsteller George Orwell, der in seinem legendären Roman „1984“ vor der allgegenwärtigen Kontrolle von Geist, Körper und Gefühl warnte, mit dem durch diese Thematik kaum aufgefallenen Filmregisseur und Schauspieler Orson Welles verwechselt wird.
Den daran anschließenden Titelgeber von Peter Schillings vorliegendem Opus hat der „SMAGO“-Chefredakteur Andy Tichler in seiner Analyse dieser CD als „Wellness-Song“ klassifiziert. Damit trifft er fraglos den Kern der Sache: „DNA“ ist eine in mittlerem, einwenig schleppendem Tempo gehaltene Synthipop-Spielerei, die in erster Linie Ruhe, Geborgenheit, frühlingshafte Frische, ja tatsächlich ‚süße Harmonie‘ verstrahlt, und somit absolut liebenswert, traumhaft melodisch und vor allem sympathisch unaufdringlich aus den Boxen quillt. Ebenfalls sehr sanft, nur verhalten rockig, trotzdem mitreißend und aufmunternd, gleichsam versöhnlich und liebevoll, erklingt der zutiefst melodische Hymnus „Ich bin die Zeit“, in der sich der Interpret – lyrisch schier faszinierend – in die Rolle der „Zeit“ persönlich begibt, die einen Menschen morgens wecken muss (ob sie dies nun will oder nicht), die jedem von uns nach dem Aufstehen Tag für Tag ‚live‘ bevorsteht, der man aber bitte „mit Respekt und Höflichkeit“ (Textzitat) begegnen möge, denn: „Ich bin die Uhr / ich bin Dein Tag / ich bin die Zeit“ (dto.). Vermutlich der beste, weil ungewöhnlichste, extravaganteste Beitrag auf „DNA“!
„Deine Seele ist ein OZEAN“ heißt es in der sachten, strikt zurückhaltend rhythmisierten, introvertierten und doch voller Kraft gefühlsbetonten Synthipop-Ballade „Ozean“, die musikalisch auf äußerst beachtenswerte Art und Weise an die Klangwelten der mittleren 80er, irgendwo zwischen Cindy Lauper („Time after time“), „Yazoo“ oder den eher stilleren Popperlen von „Erasure“, gemahnt. „Echos“ – in mittlerer Geschwindigkeit gehalten und trotzdem latent brodelnd – ist erneut ein umgehend überzeugendes und in sich geschlossenes Alternative-Rock/Pop-Kleinod, angefüllt mit einem Höchstmaß an Intensität und Energie – hinsichtlich Eingängigkeit und Dichte geradezu prädestiniert zur Nutzung als erfolgversprechende Singleauskoppelung.
Das textlich hoch philosophische „Nach Innen sehen“ ist ein so mystischer, wie weitschweifender, mit breitgefächerten Streicher- und Synthiwällen ausgestatteter, mystisch-nachdenklicher, vor allem kompakter und in sich geschlossener Gothic-Darkwave-Schleicher. Beim wiederum flotteren, geradezu rasenden, daher ultratanzbaren, wenn auch düster-verhaltenen Stakkato-Pop-Gebräu „Dominos“ setzten der Interpret und sein Produzent Tom Müller auf deftige Chorpassagen, die wie eine sehr gelungene Reminiszenz an Jim Steinmans entsprechende Arbeiten für die Gruftrocker „The Sisters of Mercy“ („This Corrosion“, „Dominion“ (sic!)) wirken.
„Das Lot der Moral“ verbindet rockig, treibende Rhythmik mit grandios inszenierten, überbordenden Soundwällen und einem sogleich unwiderruflich in Ohren, Beine und Stimmbänder (ja, dies wird garantiert eine Mitsingarie bei kommenden Livekonzerten!) eindringt. Ebenso kraftgestärkt, voranstrebend, aufwühlend, lässt der geradlinige Waverocker „Reden“ Peter Schillings nahezu durchgehend phänomenales 2014er-Werk „DNA“ in perfekter Manier ausklingen.
Peter Schilling, dem man seine 58 Jahre weder ansieht, geschweige denn anhört, hat sich nun endlich von vorherigen Missständen – sei es der immense Erfolgsdruck seit „Major Tom“-Tagen, sei es das sicherlich daraus mit resultierende Burn Out-Syndrom, oder seien es die viel zu zaghaften und vergangenheitsorientierten Comebackversuche nach 2004 – endlich freigeschwommen und strotzt im Heute und Hier nur so vor Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit. Er ist nun, im Herbst 2014, ein erlebnishungriger, putzmunterer und vorurteilsfreier kreativer Kopf, stets und ständig auf der Suche nach Unerforschtem, Ungewöhnlichem, vielleicht auch Abstraktem, möglicherweise Übersinnlichem und nicht sogleich Nachvollziehbarem.
Seine klingende „DNA“ beweist uns ohne jegliche Durchhänger, in zehn durchwegs so brachial offenen, wie ein ums andere Mal vom ersten Takt an zum Mitdenken und Genießen gleichermaßen anregenden Songperlen, dass Peter Schilling auch 32 Jahre nach seinem ihn wohl dauerhaft (je nach Sichtweise) begleitenden/verfolgenden Debütkracher „Major Tom“ ein offener, wissbegieriger Künstler ist, der sich tagtäglich für Neues bereithält, ohne dabei seine Vergangenheit jemals zu verleugnen, sich aber auch nicht mehr – wie es vor acht, zehn Jahren leider öfter der Fall war – immer wieder und unumstößlich darauf zu berufen, zu beziehen. Dies hat er auch überhaupt nicht nötig. Denn die zehn Titel von „DNA“ legen einwandfrei Zeugnis darüber ab, dass Peter Schilling, als unschlagbarer, erfahrener Alt-Heroe der 80er, uns auch drei Dekaden danach weiterhin Spannendes, Neuartiges und vor allem stets Impulsives, Exklusives und Energetisches – in musikalischer, wie lyrischer Hinsicht – mitzuteilen hat!
Holger Stürenburg, 29. September 2014
http://www.peterschilling.com/