UDO LINDENBERG
Konzert-Bericht von Holger Stürenburg: "Keine Panik! Tour 2016"!

Holger Stürenburg war am Freitag (22.05.2016) beim großen Stadionkonzert in Gelsenkirchen (Veltins-Arena auf Schalke) vor Ort …: 

Wenn man dieser Tage landauf, landab die popkulturellen Feuilletons und Magazinbeiträge so betrachtet und analysiert, ist das hervorstechende musikalische Topthema derzeit bestimmt NICHT das erwartungsgemäß gescheiterte „ESC“-Trällerchen Jamie Lee, mitsamt ihres „Ghost“-losen Liedchens „Ghost“. Auch inhaltlich und sprachlich mehr als nur fragwürdiger Vulgär-Rap a la „Mutterficker“ eines halbseidenen Herrn namens „Frauenarzt“, oder „Turbo“, die gerappte Verbal-Diarrhöe eines kaum mehr viertelseidenen Prolo-Hip-Hoppers, der da sich da nennt „Karate-Andi“, laufen momentan im einheimischen Popgeschehen (zum Glück!) zumeist nur unter „ferner liefen“ ab. Exponierter Oberabräumer des deutschen Rockfrühlings anno 2016 ist vielmehr und zweifelsohne – und entsprechend über jeden Zweifel erhaben – niemand geringeres, als UDO LINDENBERG ab Personam.

Der am 17. Mai 1946 im Münsterland geborene (vulgo: „auf ein Doppelkornfeld“ gefallene), sich immer wieder neu erfindende Vollblut-Musiker hat seine weniger attraktiven Phasen als Vollrausch-Musikus längst hinter sich gelassen. Seit seinem so überraschenden, wie unbeschreiblich aufwühlenden Comeback 2008, zählt er wiederum zu den ganz Großen des teutonischen Rock’n’Roll-Lebens. Ein Faktum, das sicherlich gleichsam auf das Konto vieler junger Musen und jugendlicher Nachwuchsmusiker geht, die den eigentlichen Gründervater, Schöpfer, Kreator und „Exzessor“ kraftvoller, muttersprachlicher Rockmusik, nach einigen mauen Jahren, abermals zu einem bedeutungsvollen ‚In-Thema‘ gemacht haben. Und zwar, sowohl für uns unerschütterliche Alt-Fans, als auch – und hier liegt das besondere Geheimnis des kreativen Schaffens Udo Lindenbergs – für diejenige Fraktion innerhalb der nachgewachsenen Generation, die sich nie und nimmer von schrillen Medien-Hypes und schnellvergänglichem Wegwerf-Pop ins Bockshorn jagen lassen möchte.

UDO LINDENBERG wurde also 70 Jahre alt – kaum eine Zeitung, eine Zeitschrift, ein Medium, welches sich nicht dieses alleine schon historisch und kulturgeschichtlich überaus faszinierenden Kunstschaffenden angenommen hat. Die Jubiläumsausgabe der Tageszeitung „Die Welt“, die wie Lindenberg vor genau 70 Jahren auf dieselbe gekommen war, hatte zum 02. April 2016 der Jubilar sogar eigenhändig mit seinen „Likörellen“, also von Udo persönlich gezeichneten Bildern, honorig und humorvoll in einem illustriert.

Ich habe in den letzten zwei Jahrzehnten bestimmt schon Hunderte von Seiten über Udo, mein Verhältnis zu dessen Musik, dessen Wortwitz, dessen politischem Treiben verfasst, Geschichten erzählt über manch skurrile Kindheits- und Jugenderlebnisse mit Udo und seinen damaligen Panik-Mitstreitern, über Streitigkeiten in meiner Familie hinsichtlich des einen oder anderen zu gewagten Textes meines großen panischen Idols etc. u.v.a. Udo Lindenberg ist im Deutschrock-Spektrum, neben „BAP“ und Heinz Rudolf Kunze, ohne Frage von jeher ein ganz wichtiger, beständiger und nachhaltiger Bestandteil meines Lebens. Zuerst prägte er mich, als „Nur“-Musik-Fan, dem zufällig das Glück zuteilgeworden war, frühkindlich ein paar Mitarbeiter des Panikrockers privat kennengelernt zu haben, wie gleichfalls heutzutage in meiner Funktion, als musikjournalistisch Tätiger. Viele von Udos genialischen Wortspielen und Formulierungen, von „Wenn das Lenin wüsste“ (aus „Moskau“, 1985), bis „Ich leg mich lieber wieder hin / weil ich zum Aufsteh’n jetzt zu traurig bin“ („Helmut Owiewohl“, dto.), zählen seit 30 Jahren und mehr zu „geflügelten Worten“ in meinem Familien- und Freundeskreis. Entsprechend bot es für mich ein ausgesprochenes Vergnügen, am vergangenen Freitag, dem 20. Mai 2016, dem ultimativen Startschuss zu Udos diesjähriger, umfangreicher Stadiontournee, in der „Veltins-Arena“ auf Schalke in Gelsenkirchen, wo ich ja (was die meisten inzwischen mitbekommen haben) seit über einem Jahr durchaus mit großem Wohlgefallen lebe, beiwohnen zu können.

Lindenberg-Konzerte sind für mich seit 1985 („Sündenknall“-Tour) letztlich Pflicht. Für das Münchener Konzert der „Exzessor“-Tour im Mai 2000 habe ich zu einem Zeitpunkt, als Udo (insbesondere in der Bayerischen Landeshauptstadt) völlig abgesagt war, ad Personam, unter nicht einfachen Umständen und Voraussetzungen, die Webetrommel gerührt. Nach 2004 habe ich in meinen zweiten Hamburger Tagen keinen Auftritt von ihm in meiner damaligen Heimatstadt versäumt; zuletzt waren wir daher am 12. März 2012 in der „Color Line Arena“ (heute: „Barcleycard Arena“) zu Hamburg-Stellingen gewesen. Und dieses Jahr, 2016, ging es also unverzüglich und ohne Umwege „auf Schalke“. Ca. 38.000 Udo-Freunde aus jeder Altersstufe, von vier bis 80 und älter, hatten sich in der voluminösen „Veltins-Arena“ (ich muss eingestehen, einen derart riesigen und daher verschachtelten Prachtbau noch nie zuvor betreten zu haben!) versammelt, um mit Udo Lindenberg seinen 70. Geburtstag gehörig und exzessiv nachzufeiern.

Zum Zweck des „Wachküssens“, hatte Udo exklusiv den aus Heinsberg bei Köln stammenden Alternative-Rocker DANIEL WIRTZ als Eröffnungsüberraschung eingeladen. Der vollbärtige, 40jährige Sänger, Liedschreiber und Gitarrist, den die meisten aus der zweiten Staffel der „VOX“-Musiksendereihe „Sing meinen Song – Das Tauschkonzert“ kennen, gab mit seiner vierköpfigen Band sieben klingende Expertisen aus seinen ersten drei Solo-Alben zum Besten. Diese waren zwar allesamt sehr modern und „heutig“ arrangiert, riefen aber selbst beim „kulturpessimistischen“ Verfasser dieser Zeilen sogleich überwiegend kaum vorhersehbar gewesene Sympathien hervor. „Auf die Plätze, fertig, los“, treibender Titelgeber der gleichnamigen „Wirtz“-CD aus dem Jahr 2015, drang aufmüpfig, ungestüm, frech und roh aus den Boxen und erinnerte unverkennbar an frühe Aufnahmen von „U2“, a la „I will follow“ oder „Gloria“ (beide 1981). „Regentropfen“, ebenfalls aus 2015, kam als punkiges, dralles Gitarreninferno daher, während „Du fährst im Dunkeln“ (dto.) in einem eher spröden, absichtlich schleppend gehaltenen Mid-Tempo-Kontext verlieb, und die abgeklärt-intime Ballade „Ne Weile her“ (2008), eines der ersten solistischen Lieder von Daniel Wirtz überhaupt, deftige Textworte mit zwar meist akustischen, aber trotzdem durchwegs feisten Gitarrenwällen verquickte. „Meinen Namen“ (2009) gerierte sich als schräges, lautes Punk-Bluesrock-Konglomerat, an den der dunkle Slow Song „Frei“ (dto.) und, als Höhe- und Schlusspunkt des 30minütiges Kurzauftritts von Daniel Wirtz und seiner Band „Wirtz“, das von Akustik-Gitarren eingeleitete, bald uneinholbar rennende, pralle, berstende Klangdrama „Mon Amour“ anschlossen. Daniel Wirtz‘ Musikverständnis ist sicherlich fest im Heute und Hier verwurzelt und verankert, erwies sich aber als extrem energetisch, tiefgehend, atmosphärisch und eindringlich. Was mich betrifft, so hat dieses knappe Gastspiel des begabten, vielleicht einwenig zu ernst und zu schwarzseherisch auftretenden Singer/Songwriters aus dem Kölner Raum jedenfalls einwandfrei dazu geführt, mir diesen Namen künftig zu merken und mich, wenn es sich schickt, in Bälde ausführlicher mit demselben zu beschäftigen.

Da auf den Straßen in Richtung der „Veltins-Arena“, ob der vielen herbeiströmenden, erwartungsvollen „Lindianer“, dichtes Verkehrstreiben herrschte, bat eine Stimme aus dem Hintergrund die Gäste in der Halle, sich bis Viertel nach Acht zu gedulden, damit alle Udo-Fans, auch und gerade diejenigen, die gegen 20 Uhr noch in ihren Autos festsaßen, unterschiedslos den Beginn der knapp dreistündigen 2016er-Rockrevue des Geburtstagskindes miterleben könnten. 15 Minuten später begann diese dann flink mit einem wahrlichen Donnerschlag: Die riesenhafte Bühne, laut einiger Presseberichte sei diese gar größer und wuchtiger, als diejenige von „Rolling Stones“ oder „AC/DC“, für deutsche Verhältnisse jedenfalls unübersehbar monumental und bombastisch ausstaffiert, erstrahlte in rotem Licht, welches sich von Rosa, über Pink, ins Meeresblaue wandelte. Filmsequenzen zeigten eine schaurig-schöne Seefahrt vom alten Griechenland in ein futuristisches Metropolis, es brausten die Stürme und die Wellen schlugen hoch – als urplötzlich der Star des Abends in einem kleinen „Käfig“ über die Köpfe der zigtausenden, jubelnden Zuschauer hinweg in die „Veltins-Arena“ hineinschwebte – zu den aussichtlos-bedrohlichen Klangkaskaden von „Odyssee“, dem krachend rockigen Titellied von Udos legendärer, inhaltlich stark friedensbewegter 1983er-LP, die damals gleichzeitig, nach zehn Jahren bei TelDec, seinen gefeierten Einstand bei Polydor bedeutete und durch ihre unverbrüchliche Stilvielfalt – von heißem Big Band Jazz, über kühlen Synthipop, bis hin zu basslastigem Funk-Rock, war alles darauf zu vernehmen, was die Popmusik in jener Ära so hergab – ein neues Kapitel im musikalischen Schaffen des Udo Lindenberg aufschlug.

Ohne Pause setzte sich die „Odyssee“ durch 70 Jahre Udo Lindenberg fort, mit dem sehr „Stones“-mäßig arrangierten Riff-Rocker „Einer muss den Job ja machen“, aus der aktuellen Nummer-Eins-CD „Stärker als die Zeit“, die bereits 100 Stunden nach ihrem Einstieg in die offiziellen deutschen Albumcharts für über 200.000 verkaufte Einheiten mit Platin ausgezeichnet worden war. Allein dieser fetzige, gitarrenlastige (Solo: Jörg Sander) Powerrocker legte perfekt Zeugnis darüber ab, dass sich Udo auch mit 70 Jahren in Sachen typischen Lindischen (Nicht-)Gesangs, wahnwitziger Bühnenperformance und knallig-schweißtreibenden Entertainments keinesfalls vor spätgeborenen JungspundInnen verstecken muss. Der optimistische, locker-legere Comeback-Hit „Mein Ding“ folgte prompt. Mittels dieses Ohrwurms, hatte 2008 die unerwartete, alles in den Schatten stellende Rückkehr des unvergleichlichen Deutschrock-Helden in die höchsten Sphären der Hitlisten, in ausverkaufte Hallen und Open-Air-Arenen, ihren Anfang genommen. Dieses phantastische Lehrstück in puncto deutscher Rockmusik trug zudem dafür die Verantwortung – und dies ist vielleicht das allerwichtigste –, dass Udo ringsum lange vermisste, beste Anerkennung von Rockfans aller Altersstufen zuteilwurde, und sich nicht wenige Kulturjournalisten und Medienvertreter, die die sagenumwobene „Nachtigall von Billerbeck“ seit langem abgeschrieben hatten, von heute auf morgen selbst korrigieren mussten, sich, ob der Frische, Jugendlichkeit, Trotzigkeit und Rotzigkeit dieses und anderer Titel der fulminanten 2008er-Scheibe „Stark wie zwei“, genötigt sahen, den einige Jährchen so immens Geschmähten, als ob nichts gewesen wäre, erneut in höchsten Tönen zu loben.

Zusammen mit dem Düsseldorfer Kinderchor „Kids on Stage“, laut Udo „der beste Kinder- und Jugendlichenchor der Welt“ (rp-online.de), trug Udo den ebenfalls äußerst hitträchtigen, hochmelodiösen Gitarrenrocker „Coole Socke“ vor, gleichermaßen der aktuellen Hitproduktion „Stärker als die Zeit“ entnommen, bevor die nahezu 40.000 in der „Veltins-Arena“ versammelten Udo-Freunde ihrem Idol aus vollen Kehlen ein überwältigendes Geburtstagsständchen darbrachten. Der immerjunge Paniker gab sich tatsächlich sehr gerührt und erzählte ein paar Schmankerl aus seiner Kindheit und Jugend im in den 50ern doch so grauen, heutzutage viel farbenfroheren, westfälischen Gronau (begrüßte herzallerliebst die angereisten „Gronauten“, mitsamt der heutigen Bürgermeisterin Sonja Jürgens), berichtete von seiner Lehrlingszeit im 1912 eröffneten Düsseldorfer Luxushotel „Breitenbacher Hof“, wie er dort als Page Koffer schleppen oder den Fahrstuhl bedienen musste, bis er sich eines Tages in eine ‚Tochter aus gutem Hause‘ (Zitat) verliebte, die sich eines ursprünglich aus Italien stammenden, aus verschiedenen Holzarten gefertigten Streichinstruments aus der Viola-da-braccio-Familie künstlerisch angenommen hatte und offenkundig „Cello“ spielte… „in jedem Saal in unserer Gegend“ (Textzitat). Zur Zelebration der 1973 unter dem schlichten Titel „Cello“ erschienenen Ode auf dieses mannslange Chordophon, erklomm Daniel Wirtz nochmals die gigantische Bühne und fungierte nun als Duettpartner seines Vorbildes und Förderers Udo Lindenberg, während unter der Hallendecke leichtbekleidete Damen das „Cello“ lasziv strichen und der Meister selbst mit einem großformatigen Exemplar eines solchen Instruments durch die Gegend wieselte. „Cello“ hatte nun einen kleinen Balladen-Part eröffnet, im Rahmen dessen Udos 1988er-Tränendrüsendrücker „Ich lieb‘ Dich überhaupt nicht mehr“ (aus der 1987er-LP „Feuerland“), mit dem Publikum als vielstimmiger Chorbegleitung und einem Gänsehaut erzeugenden E-Gitarren-Solo von Panik-Stammgitarerro Hannes „Feuer“ Bauer, die aufbauende, freundschaftliche-liebevolle, erste Auskoppelung aus „Stärker als die Zeit“, „Durch die schweren Zeiten“, und die aktuelle Single daraus, „Plan B“, zum umjubelten Einsatz kamen.

Danach ging‘s schnurstracks in Richtung peitschenden Paniksounds: Es ertönte der gnadenlos rasante „Rock’n’Roller“ (aus der 1976er-LP „Gene Galaxo – Das sind die Herrn vom anderen Stern“), welcher in das 1981, zusammen mit Udos heutigem Teilzeit-Keyboarder Pascal Kravetz, damals gerade mal zehn Jahre alt, aufgenommene, kindliche Friedenslied „Wozu sind Kriege da?“ mündete, bei dessen Aufführung aufs Neue die Düsseldorfer „Kids on Stage“ mit von der Partie waren. Diese historische Single, übrigens die erste 45er überhaupt, die Udo Lindenberg, von jeher stets eher LP-Künstler, denn Single-Spezialist, im Mai 1981 in den deutschen „Media Control“-Listen unterzubringen vermochte, geleitete über in die Abteilung „Politrock“. Für diese steuerte Udo sein ureigenes „Street Fighting Man“, „Straßen-Fieber“ (1981, aus der LP „Udopia“), und seine drastische Warnung vor Neonazismus und Intoleranz, „Sie brauchen keinen Führer“ (aus der schier göttlichen 1984er-LP „Götterhämmerung“) bei, wobei bei letzterem Titel der ehemalige „Ich & Ich“-Sänger Adel Tawil die zweite Stimme übernahm.

Direkt aus dem Musical „Hinterm Horizont“ kommend, welches seit seiner Uraufführung am 13. Januar 2011 enorm erfolgreich im Berliner „Theater am Potsdamer Platz“ abertausende Udo-Freunde verzückt hatte und ab November 2016 in der langjährigen Wahlheimat des Panikexperten, in der Freien und Hansestadt Hamburg, im „Operettenhaus“, mitten auf der Reeperbahn, gastieren wird, enterte nun Josephin Busch, die weibliche Hauptdarstellerin dieser geschichtsträchtigen, musikalischen Zeitreise in die Ära des „Kalten Krieges“, die Gelsenkirchener Arenabühne und sang, gemeinsam mit ihrem Entdecker und Ziehvater, dessen 1981er-„Udopia“-Beitrag „Gegen die Strömung“ in Form eines letztlich hocherotischen Duetts. Dieser elektrisierende Zweigesang offenbarte in aller Deutlichkeit, dass sich 30jahrige Josephin und 70jähriger Udo bezüglich Kraft, Dynamik, Schwung und Temperament aber auch in rein gar nichts unterscheiden. Die beiden Protagonisten sangen sich eher gegenseitig wild, wobei auch der Song per se, der immerhin bereits im Herbst vor 35 Jahren erstmals veröffentlicht wurde, nichts von seiner überbordenden Intensität und seinem aufstrebenden, positiven Anarchismus und der kreativen Auslegung derer im Liedformat eingebüßt hat.

Daran anschließend wurde es sogar noch heißer und lichterloher: Der wiegende, dampfende Boogie-Bluesrocker „Das kann man doch auch mal so seh’n“ (aus der 1975er-LP „Votan Wahnwitz“) präsentierte sich in einem ausufernden, regelrecht fetten Big-Band-Gewand; die fünfköpfige, aktuelle „Pustefix-Bläser“-Sektion unterstützte fortan das „Panikorchester“, hinzu trat das Vokalensemble „Panic Vocals“, um den Reinfelder Sänger Ole „Soul“ Feddersen, die langjährige Udo-Chanteuse Nathalie Dorra, Gitarristin und Sängerin BooBoo und Rockshouterin Stephanie Crutchfield, das herrliche Gitarrensolo zauberte der friesische Gitarren-Heroe Carl Carlton, der in den letzten Jahrzehnten immer wieder mal für Udo in die Seiten griff, aus dem Hut – und dann sahen und hörten wir hingerissen und voller Begeisterung Udos musikalischen Lehrmeister Klaus Doldinger persönlich zum Saxophon greifen und zu genanntem 1975er-Bluesfeuerwerk ein ausgiebiges, ergreifendes, einfach nur faszinierendes Solo auf seinem Lieblingsinstrument beisteuern.

Nun begrüßten sich der 70jährige Lindenberg und der 80jährige Doldinger offiziell, beiden sah und hörte man ihr Lebensalter zu keinem Zeitpunkt an. Der in der Nähe von München residierende, erhabene, elitäre Superjazzer spielte kurz die von ihm komponierte „Tatort“-Titelmelodie auf dem Saxophon an, bei deren Urversion aus dem Jahr 1970 niemand geringeres, als Udo in aller Pracht und Herrlichkeit, das Schlagzeug bedient hatte. Rockig und Rollig ging es weiter mit der im dröhnend-bluesrockigen Soundbild von Udos 1985er-Deutung gehaltenen Interpretation des 30er-Jahre-Filmschlagers „Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Frau’n“. Zu dieser spritzigen Darbietung, vermochte es der glückliche Jubilar, seinen einstigen WG-Kumpel Marius Müller-Westernhagen auf die Bühne zu locken, der seiner gesanglichen Mitwirkung bei diesem, mit einem Gitarrensolo von Jörg Sander versüßten Standardwerk aus der Frühzeit deutschen populärmusikalischen Liedguts, seinen eigenen Stadionrockhymnus „Sexy“ (1989) folgen ließ, wobei ihn womöglich alle längst aus dem Häuschen geratenen Besucher der „Veltins Arena“ auf Schalke stimmstark unterstützten.

Der garantiert gut gemeinte, aber bei genauerem Hinsehen (gerade in Anbetracht der augenblicklichen chaotischen, politischen Situation) womöglich etwas naive Lobgesang auf die „Bunte Republik Deutschland“ (1989), verband zackige Ethno-Spielereien mit einem plietschen Rap (!) des ansonsten eher Hip-Hop-fernen Daniel Wirtz, zudem mit zusätzlichen Rap-Passagen von Adel Tawil, einem grandiosen Gitarrensolo von Chorlady BooBoo und einer gewitzten „Rock me Amadeus“-Parodie, vorgeführt von Daniel für Udo. Daraufhin standen erneut ein paar feine Balladen, nachdenklich-philosophische, stille Lieder auf dem Programm: So genossen wir den 2003 auf dem bei Altfans nicht unumstrittenen Revival-Album „Der Panikpräsident“ erstmals vorgestellten und 2016 für „Stärker als die Zeit“ reanimierten, ironisch selbstreflexiven Schleicher „Mein Body und ich“, die absolut liebenswerte Empfehlung, sein Leben eigenständig zu gestalten, zu sich selbst zu stehen und niemals zu verzweifeln, „Nimm Dir das Leben und lass es nie mehr los“, graziös garniert mit einer explosiven Souleinlage von Nathalie Dorra und einem energiegeladenen Gitarrensolo von Carola Kretschmer, der „Tigerin von Eschnapur“, und die sensible 1986er-„Sternenreise“ (aus der LP „Phönix“).

Kurz darauf kam Udo-Kunstfigur „Gerhard Gösebrecht“ von seiner eigenen „Sternenreise“ ohne Umschweife „aus dem dreizehnten Sonnensystem“ (Text) zurück auf die Erde (vulgo: in die „Veltins-Arena“ zu Gelsenkirchen) und forderte, wie schon 1973, sehr zurecht: „Wir haben die Nase vom Kosmos Rock voll / wir wollen jetzt den irdischen Rock’n’Roll“ (Textzitat) – und dieser legte sogleich los mit der schweißtreibenden „Honky Tonky Show“ (1974, aus „Ball Pompös“), inkl. „Pustefix-Bläser“ und „Kids on Stage“, gefolgt vom imaginären, erst Fußball-, dann Frauenhelden „Bodo Ballermann“ (1976) – diesmal im urigen Boogierock-Gewand, weniger in Tango-Gefilden, wie zu Ursprungszeiten -, und dem spaßigen Auftritt von Udos weiterem WG-Kumpanen aus so seligen, wie alkohol-seligen Hamburg-Winterhuder „Villa Kunterbunt“-Tagen, Otto Waalkes. Die beiden immerjungen Rock’n’Roll-Senioren fetzten los mit der Hommage an wilde, alte Männer, „Der Greis ist heiß“ (2008), woraufhin der ostfriesische Blödel-König seine deutsche Auslegung von „AC/DC’s“ Ewigkeits-Rockreißer „Highway to Hell“, nun als „Erst auf dem Heimweg wird‘s Hell“, überzeichnet kreischend abfeierte – wobei sich, eingedenk Ottos überdrehten Heavy-Organs, manch anwesender Altrocker im Publikum vielleicht gefragt haben mag, ob es nicht weitaus effektiver und schlauer gewesen wäre, die australischen Hochspannungs-Rocker hätten unser aller Otto, anstelle von Axel Rose, als stimmstarken Brian-Johnson-Ersatz für die laufende „Rock or Bust“-Tour auserkoren 😉

Zum Abschluss des offiziösen Abschnitts seiner Gelsenkirchener Aufwartung, intonierte Udo herzzerreißend, ehrlich und aufrichtig, in gesanglicher Kooperation mit Nathalie Dorra und Josephin Busch, „Horizont“, die innige Liebeserklärung an seine vor genau 30 Jahren verstorbene „Panik-Sekretärin“ Gaby Blitz. Dieser intensive Beweis jeglicher Zuneigung bedeutete wahrhaftig ein famoses, treffliches und außerordentlich emotionales Show-Finale (selbst, wenn ich beim Genuss dieses traumhaften Gefühlsausbruchs mir immer wieder in meinen nicht vorhandenen Bart murmelte… Das ist, trotz aller vokalistischer Hochleistung beider Damen, nicht Nathalies Lied, nicht das von Josephin (die war zum Zeitpunkt des ‚Tathergangs‘, den wir damals im Henning-Wulf-Weg 12 in Hamburg-Lokstedt hautnah miterlebten, noch gar nicht geboren!), das ist einzig und alleine Gabys Lied – fertig!)

Wie dem auch sei, nach der obligatorischen Bandvorstellung – obwohl dem Beinhart-Fan die guten, alten Koryphäen des „Panikorchesters“ eigentlich gar nicht mehr einzeln benannt werden müssten; ob Gitarrist Hannes „Feuer“ Bauer, Schlagzeuger Bertram Engel, Pianist Jean-Jacques Kravetz, Tastenakrobat Hendrik Schaper, Bassist Steffi Stephan oder die erst in den letzten Jahren hinzugestoßenen Gitarristen Jörg Sander und Zoran Grujowski… der „Panikfamilie“, wie Udo seine Anhänger gerne nennt, sind diese Namen bereits seit Jahrzehnten ein Begriff – gab’s noch ein professionelles Bühnenphoto. Und dann hieß es fürs erste: „Auf Wiedersehen“!

Die „Panikfamilien“-Mitglieder auf Schalke gaben nach diesem schnellen, unverhofften Abgang natürlich keine Ruhe – so dass sich Udo zur fast sakralen Darreichung der sensiblen 1979er-Ballade „Bis ans Ende der Welt“ (aus der LP „Dröhnland Symphonie“) neuerlich ins Bühnengeschehen begab, gefolgt vom gesamten „Panikorchester“, zwecks radikalen Abfeierns der ganz großen Dauerbrenner und Gassenhauer aus seiner über 45jährigen Karriere als ruheloser Panik-Rebell vom Dienst: „Johnny Controletti“ (1974, aus „Ball Pompös“), selbstverständlich der Mauern durchbrechende „Sonderzug nach Pankow“ (1983), die gute, alte „Andrea Doria“, auf der ohnehin seit 1973 stets „alles klar“ ist, bis hin zum „Grande Finale“, als welches allerdings nicht gleichnamiger LP-Abschluss des 1981er-Meisterwerks „Udopia“ diente, sondern die imaginäre, (nicht nur deshalb) unerreichbare Hollywood-Schönheit „Candy Jane“, der nun rund 20 Minuten lang kräftig rockend und rollend gehuldigt wurde.

Und hierfür kehrten sie nun alle auf die Bühne zurück: Otto Waalkes sprang hinters Schlagzeug, Alt-Paniker Nippy Noya prügelte erstmals seit Jahren wieder die Bongos und Percussions, der bluesbegeisterte Saxophonist Ken Taylor blies behände in sein Horn, Carl Carlton und Carola Kretschmer duellierten sich an der Stromgitarre, Bertram Engel fügte ein knallendes Drum-Solo ein, Chorsänger Ole Feddersen verlieh dem hocheruptiven Boogie-Rock-Blues-Gebräu eine ordentliche Portion Soul – und der Star des Abend gleitete währenddessen in seiner „Raumkapsel“ an der Hallendecke entlang von der einen Seite der „Veltins-Arena“ auf die andere und wieder zurück – mindestens 50 Personen muszierten, tanzten, sangen auf der Bühne, bevor zum endgültigen Ausklang des diesjährigen Arenakonzertes von Udo Lindenberg in Gelsenkirchen seine funkig-flockige Hymne auf die ‚geile Meile‘, die Hamburger „Reeperbahn“, und die gemächlichen, geradezu festlichen Schleicher „Eldorado“ (2016), „Ich schwöre“ (1996) und „Woody Wodka“ (2008) wohltuend ertönten!

Kurz zuvor, die „Reeperbahn“ noch im Rücken bzw. in den Ohren, hatte ich die „Veltins-Arena“ bereits verlassen. Da ich diese überdimensionale Halle bislang noch nie besucht hatte und entsprechend von Sorgen geplagt war, womöglich bis auf Weiteres kein Taxi nach Hause zu bekommen (bzw. überhaupt erst den Taxistand zu finden!), schenkte ich mir die letzten drei Titel des Konzertrepertoires, fuhr aber – wie ein paar Minuten später auch die anderen, knapp 40.000 anwesenden „Lindianer“ – sehr angetan, fröhlich gestimmt und unzweifelhaft zufrieden zurück in die Altstadt.

Udo Lindenberg, immerhin seit ca. 35 Jahren ein enger musikalischer Wegbegleiter meiner und meiner Familie, ist 70 Jahre alt geworden. Eine Tatsache, die man den gesamten Freitagabend lang auf Schalke niemals auch nur in Nuancen spürte. Der Panikrocker mit kulturellem und gesellschaftspolitischem Anspruch klang nicht weniger jung, frisch und gleißend provokativ, als zu jenen Zeiten, in denen ich mittels damaliger Deutschrock-Meilensteine der Sorte „Udopia“ (1981), „Odyssee“ (1983) oder ganz besonders „Götterhämmerung“ (1984) zu einem Riesenfan dieses konstruktiv polarisierenden Rock-Urgeisteins avancierte. Neben der wirklich vortrefflichen, aktuellen CD „Stärker als die Zeit“, dürfte die nun anstehende Stadion-Tournee von Udo Lindenberg zu den nicht so leicht zu überflügelnden Höhepunkten des nun so positiv un offensiv angebrochenen Deutschrock-Frühlings, und letzteres allgemein zu den Großereignissen der kommenden Open-Air- und Festival-Saison 2016, erwachsen. 13 Termine, von München im Süden bis Hamburg im Norden, stehen bis zum 26. Juni d.J. auf der Liste. Udo Lindenberg, inkl. „Panikorchester“, Tänzer, Sänger und Artisten, dürfte in allen Städten, die der „Keine Panik Tour“-Tross in diesen Wochen ansteuert, ein ums andere Mal auf ein begeistertes Auditorium treffen, zumal sich seine künstlerischen und musikalischen Meriten und Verdienste gerade in den vergangenen acht Jahren nach „Stark wie zwei“ unaufhörlich und unverrückbar von Höhepunkt zu Höhepunkt gesteigert haben.

Es war fraglos ein toller, inspirierender und erhellender Abend in Gelsenkirchen auf Schalke; ein ganz besonderer Dank gilt dem Behindertenservice des Hallenpersonals der „Veltins-Arena“, der mich unbürokratisch und in aller Schnelle bei der Findung einer für mich gerechten Sitz-/Stehplatz-Mixtur behilflich war, und natürlich dem örtlichen Veranstalter „Dirk Becker Entertainment“, der mich ebenso problemlos für das wundervolle Udo-Konzert akkreditiert hat!

 

Die kommenden Konzerttermine sind HIER nachzulesen!

 

 

Holger Stürenburg, 20. bis 22. Mai 2016
http://www.warner.de
http://www.udo-lindenberg.de

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