"EUROVISION SONG CONTEST 2016"
smago! Gast Kolumne von Frank Ehrlacher: Vorschau auf heute Abend (14.05.2016)!

Lesen Sie HIER die persönlichen Einschätzungen des ultimativen Chart- und Musikexperten! 

Seit ich vor einer Woche hier in Stockholm angekommen bin, teilen sich sowohl Fans als auch Pressekollegen in zwei Lager: Die, die mich überzeugen wollen, dass es dieses Jahr gar keinen anderen Sieger als Russland geben kann – und die, die mir erklären, warum gerade Russland nicht und auf keinen Fall siegen wird. Fakt ist, dass Sergey Lazarev mit "You're The Only One", seit Wochen haushoher Favorit bei allen Buchmachern, in der Probewoche hier in Stockholm die meisten Beobachter überzeugt hat. Das ist nicht nur das Lied an sich, das vielleicht sogar am wenigsten, ein zeitgemäßer Pop-Song mit nicht allzu hohem Wiedererkennungswert – es ist vor allem das Auftreten, die visuellen Effekte, kurzum, die "Show".

Beschäftigen wir uns also mit der Frage: Wenn nicht Russland, wer dann?

Da sind vier Beiträge im Feld, die in punkto Show eher der Gegenentwurf des russischen Beitrags sind und stattdessen mit einer schlichten, aber starken Performance überzeugen wollen.

Allen voran Dani Im aus Australien mit einem modernen Pop-Song, ausdrucksstark und mit sicherer Stimme vorgetragen, ohne großen Schnick-Schnack drumherum. Die Halle hat sie im ersten Semifinale geliebt und die Jurys zumindest soweit, dass es für die Final-Qualifikation reichte.  Für Ralph Siegel, den Großmeister des ESC, der hier vor Ort ist, obwohl er zum ersten Mal seit fünf Jahren keinen eigenen Beitrag am Start hat, ist sie DER Favorit – und der Mann kennt sich nach über 40 Jahren im ESC-Geschäft aus wie kaum ein zweiter.

Ebenfalls überzeugend ist die Performance von Jamala aus der Ukraine. Sie besingt in "1944" das Schicksal ihres Volkes, vielleicht sogar ihrer Familie und das merkt man ihrer Stimme an, obwohl man vielleicht nicht jedes Wort versteht. Bewegt und bewegend steht sie doch fest wie ein Baum – um das Set Design kurz mit einzubeziehen – auf der Bühne. Zu Gute kommt ihr sicher auch der recht späte Start-Platz als 21. von 26. Viele schauen nach wie vor nicht den gesamten Song Contest, sondern schalten irgendwann ein und bilden sich dann ihr "Abstimm-Urteil" anhand derjenigen wenigen Songs, die sie dann gesehen haben.

Genau das könnte den Niederlanden zum Nachteil werden, deren Douwe Bob mit einer Charme- Offensive und leichtem Country-Pop das Publikum im 1. Semi-Finale für sich einnahm. Er muss heute Abend als 3. raus – da ist die wohltuende zehn-sekündige Pause mitten im Song fast verschenkt – es gibt noch nichts, wovon man sich erholen muss, der Abend, der fast vier Stunden lang werden wird, hat gerade erst angefangen.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich zwei weitere Songs:

Den absoluten Fan-Favoriten vor Ort, die 19-jährige Zoe aus Österreich, die ein simples, aber stimmiges Pop-Chanson namens "Loin d'ici" singt und damit genauso wie der "eigentliche" Franzose Amir mit "J'ai cherché" im vorderen Feld landen sollte, sowie die in Hamburg aufgewachsene Iveta Mukuchyan, die für Armenien antritt und als letzte ins Rennen gehen darf. Ihr Song "LoveWave" ist vielen etwas zu gewagt und avantgardistisch, dürfte aber sein eigenes, nicht zu unterschätzendes Publikum finden.     

Damit kommen wir zum mutmaßlich hinteren Teil des Feldes und der Frage, wie der deutsche Beitrag "Ghost" von Jamie-Lee (wie sie sich in der Tradition von Ann Sophie jetzt offiziell nur noch nennt) wahrscheinlich abschneiden wird – beides könnte eng miteinander verknüpft sein. Es ist einfacher, den Erstplatzierten vorherzusagen als den Letzten – beim Ersten sammeln sich viele Stimmen und Stimmungen aus vielen europäischen Länder – letzter wird nicht zwingend des Schwächste, sondern der, der am wenigsten auffällt, um in vielen Ländern unter die ersten Zehn (denn nur die erhalten 12, 10, 8… Punkte) zu kommen.

Genau das ist beim deutschen Beitrag zu befürchten. Ein handwerklich gut gemachter Pop-Song, der allerdings keinen hohen Wiedererkennungswert mit sich bringt, sondern eher 3 Minuten lang dahin plätschert. Dazu bestand nach der Vorentscheidung Einigkeit darüber, dass an der Performance gearbeitet werden muss – geändert hat man schlichtweg: Nichts! Rotkäppchen kommt – nach internem Ablauf des Schwedischen Fernsehens heute Abend genau um 21:47 Uhr – aus seinem Märchenwald, bewegt sich wie der Springer beim Schach zwei Schritte nach vorne und einen zur Seite, gegen Schluss nimmt sie einmal die Gangway "durch" das Publikum, klatscht unsicher und einstudiert Hände ab – und verschwindet zumindest akustisch wieder in ihrem Zauberwald. Sie macht es nicht schlecht – aber genau das, ist bei einem ESC halt bei weitem nicht gut genug.

Immerhin könnten "wir Deutschen" dort in bester Gesellschaft sein, denn das "Mutterland des Pops", Großbritannien – wie Deutschland als eins der "Big Five"-Länder automatisch fürs Finale qualifiziert – bietet eine ähnlich schwache Performance, so dass ich auch diesen Beitrag eher weit im hinteren Felde sehe.

Europe, start voting now – und: Germany, start waking up now.  

Frank Ehrlacher – top-exklusiv für smago!
http://www.eurovision.tv
http://www.eurovision.de

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