TONY CHRISTIE
Das 3-CD-Set "50 Golden Greats" im Test von Holger Stürenburg!
Neulich wurde ich von einer Chatbekannten gefragt, ob ich, neben all den deutschsprachigen Künstlern, die mir so im Laufe meines Berufslebens über den Weg gelaufen sind, auch „echte Weltstars“ kenne. Zugegebenermaßen waren dies nicht allzu viele. Roger Whittaker etwa, 80er-Jahre-Heroe Nik Kershaw, Früh-70er-Hitmaschine Chris Andrews, der kanadische Rock-Shouter Michael Sadler von „SAGA“ oder einer meiner ‚Seelenverwandten“‘, der den Namen Raymond Douglas Davies jr. („The Kinks“) trägt. Für mich persönlich sämtlich monumentale Augenblicke, in Anbetracht derer ich mich ein ums andere Mal Mini-Klein mit Hut fühlte. Doch gegenüber einem „echten Weltstar“ kam ich mir wirklich vor, wie ein kleiner Schuljunge, ein Dreikäsehoch. Dies war so bei einem Zusammentreffen mit TONY CHRISTIE. Diese lebende Legende wurde vor 73 Jahren im britischen County South Yorkshire, nahe der Metropole Sheffield, geboren und gilt wiederum als ein Künstler in meinem Dasein, der in die Kategorie derjenigen Musiker fällt, deren Lieder mir mein 1984 verstorbener Herr Papa bereits im Kindesalter immer wieder vorgespielt hatte – so dass mich dieser wunderbare Entertainer tatsächlich seit knapp 40 Jahren oder mehr durchgehend begleitet.
1980 war hierzulande, im Ariola-Vertrieb, der MCA-Sampler „American Evergreens – The Golden Years of Music“ erschienen, eine LP, die mir mein Vater in Hamburgs teuerstem Schallplattengeschäft „Sonnenberg“, gelegen in der Mönckebergstraße in der Hamburger Innenstadt, seinerzeit kaufte. Darauf waren nicht nur die unvergesslichen 60er-Crooner, wie Engelbert, Tom Jones, Par Boone etc. verkoppelt worden, sondern eben auch das Lied „(Is this the Way to) Amarillo“, eben von Tony Christie. Da mir seine geradlinige, vornehme und dabei durchwegs beherrschende, führende Stimme, die Art seines Auftretens, seine Contenance, und allgemein seine vollständige gebildet-angenehme Persönlichkeit außerordentlich zusagten, lernte ich bald darauf die – damals – aktuellen Tony-Christie-Hits kennen, so z.B. „Sweet September“ oder „Train to Yesterday“, die der Vollblutmusiker von der Insel in erster Linie für den deutschen Musikmarkt, unter der Fittiche des deutsch-britischen Produzententeams um Graham Sacher und Rolf Soja eingesungen hatte, und die mir sofort in Leib und Seele übergingen.
So verfolgte ich Tonys Karriere in den 80er Jahren bei RCA, zu Beginn der 90er – unter den Fans und dem Interpreten selbst nicht unumstritten – bei Produzentenmogul Jack White und viele spätere Alben bei zig Plattenfirmen, bis ich Tony Christie dann, im Jahr 2010, im Rahmen einer der von Manni Schulte und Karl-Heinz Schwedter organisierten „Schlager-Starparaden“ in der Hamburger „Color Line Arena“ (heute: „Barcleycard Arena“) erstmals persönlich zu Gesicht bekam und mich mit ihm freundlich unterhielt.
Nun erscheint zum Weihnachtsgeschäft 2016 via WRASSE Records (Vertrieb: Harmonia Mundi) eine brandneue, luxuriös aufbereitete Drei-CD Box des unvergleichlichen Edelmannes des gehobenen Popsongs britischer Prägung. Nicht so versnobt und exaltiert, wie Bryan Ferry, nicht so schnulzig und schwülstig, wie Engelbert, nicht so dauergeil und draufgängerisch, wie Tom Jones – Tony Christie besitzt vielmehr eine wahrhaft einzigartige Fähigkeit, ein – auch noch so bekanntes Lied – mit einem speziellen Leben, einem nur ihm möglichen Flair, zu erfüllen und gesanglich auszugestalten. Darüber legen die „50 GOLDEN GREATS“ – also sage und schreibe 50 Lieder aus knapp 50 Jahren Tony Christie – auf gleichnamiger CD-Box in bester Manier Zeugnis ab.
Von der allerersten (damals noch gefloppten) Single „Life’s to good to Waste“, 1966 mit Spitzenmusikern der Sorte Jimmy Page („Led Zeppelin“, git) oder Billy Preston (pi) aufgenommen, über die ganz großen Hits und Dauerbrenner der 70er Jahre, auf die gleich noch intensiver eingehe, bis hin zu einigen ausgewählten Titeln aus der von den Kritikern eigentlich unisono hochgelobten 2008er-Scheibe „Made in Sheffield“ und fünf brandneuen Beiträgen, die Tony kürzlich unter der Tonregie von Greame Pleeth in Nashville/Tennessee aufgenommen hat, ist alles das vorhanden, was dem Fan des vorbildlichen Popgentleman aus Conisbrough direkt und unverblümt das Herz höherschlagen lässt.
Zwischen 1971 und 1980 vermochte es TONY CHRISTIE, seine größten, bis heute den meisten Popfreunden strikt im Gedächtnis verhafteten Hits und Gassenhauer zu präsentieren und nicht nur, aber überwiegend in Deutschland, als veritable Hitparadenstürmer mit Ewigkeitsgarantie zu etablieren. Dazu zählt natürlich in erster Linie der stampfend-treibende Megaohrwurm „(Is this the Way to) Amarillo“, der sogar noch 2016 von keiner Schlagerparty, keiner Oldiedisco, keinem MOR-Radiosender wegzudenken ist und zu seinem Entstehungsdatum, sowohl in Großbritannien, als auch in unseren Breitengraden, einen wochenlangen Nummer-Eins-Hit bedeutete. Kaum weniger erfolgreich hatte sich zuvor „I did what I did for Maria“ dargeboten, ein feiner Gehörgangbesatzer, der inhaltlich letztlich von Selbstjustiz (und der gesetzlichen Strafe dafür) handelt. Die flehentliche Drohung eines Spielsüchtigen, einst die teuflischen Casinos in „Las Vegas“ (Liedtitel) anzuzünden, stellte sich 1971 als Tonys erster Chartserfolg in seiner Heimat Großbritannien dar; die Single-B-Seite, das auf der Komposition „Etüde P. 10, No. 3“ von Frederic Chopin basierende Abendlied „So Deep is the Night“, wurde für „50 Golden Greats“ gleichermaßen bedacht. Ein Jahr darauf zog der opulente ‚Perfect Popsong‘ „Avenues and Alleyways“ in Deutschland auf Rang 34, in den Künstlers Heimat wurde Platz 26 erreicht. Drei Jahre später 1975, erzielte das Country-beeinflusste „Drive saftely, Darlin‘“ einen stolzen Rang 35 in den britischen Hitlisten.
Ebenfalls in den Goldenen Siebzigern ihren Ursprung haben die wehende Popballade „Love and Rainy Weather“ (1973), der liebevolle Geburtstagsgruß „Happy Birthday Baby“ (1974), der erhabene Mid-Tempo-Popsong „Home Lovin‘ Man“ (1971) oder der drastische Hinweis, eine bekannte Billig-Schuhe-Ladenkette möglichst nicht zu besuchen (bitte, liebe Leser, versteht mein Wortspiel!), „Don’t go down to RENO“ (1972, Rang 5 in der BR Deutschland).
Für seine allererste, selbstbetitelte LP „Tony Christie“ hatte der Vokalist mit der ausdrucksstarken, unter Tausenden herauszuhörenden Stimme George Harrisons ‚Jesus-Pop‘-Gassenhauer „My Sweet Lord“, bläserverstärkt und großbürgerlich schwelgend, neu aufgenommen; aus diesem Debütalbum wurde auch der prunkvolle Hymnus „Didn’t we“ für „50 Golden Greats“ ausgegraben.
Für LP Numero Drei, „With Loving Feeling“, nahm sich Tony der gemächlichen Neil-Sedaka-Komposition „God Bless Joanna“ an. Selbiger US-Songschreiber zeichnete zudem für die theatralische Popballade „Solitaire“ verantwortlich, die gleichsam 1972 erstveröffentlicht wurde. Dieser Scheibe wurden auch der von Cynthia Weil, Barry Mann und dem Team Leiber & Stoller erdachte, soulig-bluesige „The Drifters“-Megahit „On Broadway“, der symphonische Popschlager „Daddy, don’t you walk so fast“, die genialische Charlie-Rich-Nummer „The most Beautiful Girl“ und so das exzellente, wie üppig arrangierte Meisterwerk „Have you ever been to Georgia“ für vorliegendes Drei-CD-Set in puncto Tracklist genutzt. Tonys 1974er-LP „From America with Love“ gebar das bluesige Rock’n’Roll-Chanson „Drift away“.
Neben erwähnter, gitarrenrockiger Beat-Ode „Life’s to good to Waste“ und deren B-Seite „Just the Two of us“ (beide 1966), letztere in jenen Tagen eingespielt mit der Begleitcombo „The Trackers“, sind mit der von Tony selbst verfassten Feudalschnulze „My Prayer“, die inhaltlich und stilistisch an Paul Ankas bzw. Frank Sinatras gesungenes Resümee „My Way“ erinnert, der dazugehörigen Single-B-Seite „I need you“, oder dem sommerlich-verliebten Schleicher „Say no more“ (1968) weitere, viel gesuchte Frühwerke auf „50 Golden Greats“ vorhanden. In ebenjene Kategorie fällt gleichermaßen die ultrarare 1967er-Single „Turn around“ (A-Seite), mitsamt „When will I ever love again“ (B-Seite), sowie der elitäre Schmachtgesang „Smile a little smile for me“ (1970)
Zu den neueren Titeln, die im neuen Jahrtausend kreiert wurden, zählen beispielswiese das typisch britische, aufgedonnert-großorchestral inszenierte Popchanson-Drama „Every Word you said“, der herrlich vor sich hin begehrende, nächtlich-dunkle Kammerblues „Born to cry“, konzipiert von den Musikern der hochtalentierten Elektropop-Band „Pulp“ um Jarvis Cocker (erinnere: „Common People“, 1995), der gemütlich-ausgeruhte, von Tony eigenständig geschriebene Piano-Swing „All I ever care about is you“ aus der gefeierten 2008er-Scheibe „Made in Sheffield“ oder das ebenso aus der Feder der „Pulp“-Waverocker geflossene Synthipop-/Gitarren-Epos „Walk like a Panther“. Mit „Now’s the Time“ ist der ‚Swinging Sixties‘-beeinflusste, geradezu berstende Titelgeber von Tonys 2011er-Album für „50 Golden Greats“ ausgesucht worden; in dieselbe stilistische Kerbe schlägt die unterschwellig rockende Beat-Blues-Orgie „Key of U“, während „Working Overtime“ wohlige Erinnerungen an den überkandidelten Bombast-Wavepop von Pete Wylie bzw. „The Mighty Wah!“ wachwerden lässt. Den mystischen Filmsong „Wild is the wind“, im Original aus 1957, kennen wir in erster Linie in der 1976er-Auslegung von David Bowie, „Stupid Things“ war 1994 ein Erfolgslied von US-Singer/Songwriterin Amie Mann; aus dem Repertoire der sagenumwobenen Westcoast-Rocker „Eagles“ stammt der weitschweifige Country-Pop „Tequila Sunrise“, dessen lyrische Aussage durch Tonys tragende Stimme ganz besonders zur Geltung kommt. Als originärer, nachdrücklicher Crooner-Blues zeigt sich Tonys Neuauslegung des 2007er-Titels „Only ones who know“ der Sheffielder Indie-Truppe „Arctic Monkeys“, ebenso inbrünstig, intensiv und deutlich vernehmen wir die Brett-Anderson-Songkreation „Wild ones“. Aus dem 1984 erstveröffentlichten, traurig-melancholischen Synthi-Blues „Louise“ der gleichsam in Sheffield begründeten New-Romantic-Band „The Human League“ wurde 2008, eben für „Made in Sheffield“, eine akustische, beinahe sakrale Pianoballade ausbaldowert.
Vor einem Jahr, im Herbst 2015, spielte Tony Christie, in Kooperation mit der Dubliner Folk-Formation „Ranagri“, die phantastische, aber leider vollkommen unterschätzte CD „The Great Irish Songbook“ ein, auf der sich die wichtigsten irischen Traditionals der letzten Jahrhunderte in ansprechenden Neuversionen befanden. Hieraus gelangen dem im 19. Jahrhundert entstandenen Volkslied „Star of County down“, sowie dem lieblichen, still und sehnsuchtsvoll vor dich hin perlenden Liebesgeständnis „Carrickfergus“ der Weg auf „50 Golden Greats“.
Neu und zumeist bisher unveröffentlicht sind die knackigen, für Tony-Verhältnisse sehr lauten Country-Rock-Statements „Early Morning Memphis“, eine Art düster-dröger, schleppender Swamp/Blues-Verschnitt, untermalt mit geisterhafter Mundharmonika und feister Hammondorgel; „Damned“ ist Country-rock’n’rollig in bestem „Creedence Clearwater Revival“-Sound ausgekleidet und wurde vom Künstler am 01. Oktober 2016 in der ZDF-TV-Show „Willkommen bei Carmen Nebel“ vorgestellt.
„Just like Yesterday“ ist ein wiegender Country-Blues in eher gezügeltem Tempo, „Hangin‘ around“ hingegen erweist sich als kuschlige Ballade mit Pedal-Steel und relaxtem Rhythmus und „Dancing Days“ ertönt als angenehme, behagliche Country-Schulze erster Güteklasse; „I surrender“ swingt beschwingt, frohsinnig und mit starken Streicher- und Bläserwällen ausstaffiert, einwenig folkrockig angehaucht, durch die Lautsprecher. Gleichfalls in besonnenem, bedächtigem Kontext hält sich das ausgeruhte Liebeslied „You are my Lifeline“ auf. Das ruhige, gedämpfte und durchaus abgeklärte Abschiedslied „When all is said is done“ (nicht identisch mit gleichnamigem „ABBA“-Lied aus 1981) beschließt gediegen, gefühlvoll und zerbrechlich die dritte CD von „50 Golden Greats“.
Zu einer „musikalischen Biographie“ ruft der Pressetext hier analysierte Drei-CD-Box aus. Dies ist im Großen und Ganzen durchaus zutreffend, auch wenn leider einige – gerade für das deutsche Publikum sehr bedeutsame – Phasen des kreativen Schaffens des TONY CHRISTIE ausgelassen wurden. Weder die beiden, gerade in der BR Deutschland sehr gefragten RCA-LPs „Ladies Night“ (1980) und „Time and Tears“ (1982) kommen auf „50 Golden Greats“ zum Zuge, noch finden sich Auszüge aus den vieren, zwar oft diskutierten und geschmacklich polarisierenden, zwischen 1991 und 1994 von Jack White produzierten Alben „Welcome to my Music I“, „Welcome to my Music II“, „In love again“ und „Calpyso and Rum“ auf der Titelliste.
Die unschlagbaren MCA-Reißer aus den frühen bis mittleren 70er Jahren und viele – überwiegend unzweifelhaft hochspannende – Lieder aus den letzten drei Studiowerken von Tony, „Made in Sheffield“, „Now’s the Time“ und „The Great Irish Songbook“ untermauern hauptsächlich die „50 Golden Greats“ – und alleine diese labelübergreifende Kompilation macht das Drei-CD-Set so enorm interessant für Fans jeglicher Generation und könnte auch nachgeborene Britpop-Liebhaber für das musikalische Tun des Pop-Adeligen mit der eindringlichen Stimme begeistern!
Bitte beachten Sie die offizielle deutsche Fan-Seite www.tonychristie.de und besuchen Sie gerne eines der kommenden vier Deutschland-Konzerte von Tony Christie:
04.12.2016 Ennepetal
06.12.2016 Erfurt
07.12.2016 Schwabach
09.12.2016 Bonn
Holger Stürenburg, 13. bis 15. Oktober 2016